War in Ukraine. Damaged shopping center in Kyiv

„Alte politische Gewissheiten sind überholt“


Autor*in: Ludmilla Ostermann

Ein Jahr ist es her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Vor dem 24. Februar 2022 hatten die deutsch-russischen Beziehungen lange Zeit partnerschaftlichen Charakter. Heute liefert Berlin Panzer an Kiew. Für Bundeskanzler Olaf Scholz markierte der russische Überfall auf die Ukraine eine Zeitenwende. Der Politikwissenschaftler Dr. Thomas Müller untersucht im Sonderforschungsbereich „Praktiken des Vergleichens“ (SFB 1288) weltpolitischen Wandel und erklärt, welche politische Erzählung sich hinter dem Begriff verbirgt und wie die Zeit nach dieser Zäsur aussehen könnte.

Wie macht sich eine Zeitenwende bemerkbar?

Zeitenwenden sind Momente der Neu- und Umorientierung. Die wenigsten von uns haben einen solchen Angriff erlebt, wie ihn Russland gerade gegen die Ukraine führt. Das ist eine besondere Situation, die uns nachdenklich stimmt. Bürger*innen spüren die Auswirkungen politischer Entscheidungen – wenn mehr Geld für die Bundeswehr ausgegeben wird, wenn aufgrund der Politik gegen Russland die Energiepreise steigen und wir in die Inflation geraten. In der Wissenschaft enden Kontakte und Forschungsverbünde. Wir bewerten Sachverhalte neu, die zuvor als gut und erstrebenswert galten.

Bild von Dr. Thomas Müller von der Universität Bielefeld.
Dr. Thomas Mueller arbeitet an der Universität Bielefeld unter anderem im Sonderforschungsbereich SFB 1288: Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern.

Wann haben wir zuletzt eine solche Zeitenwende erlebt?

Wahrscheinlich zählen das Ende des Kalten Krieges und der 11. September dazu. Das hängt davon ab, wer die Zeitenwende definiert: Wer sind die Akteur*innen, die von einem radikalen Bruch sprechen? Es stellt sich dabei immer auch die Frage, wie man internationale Geschichte erzählen möchte. Schauen wir nur auf die Geschichte zwischen mächtigen Staaten, dann gehören die großen Kriege dazu. Geht es um die Geschichte des Imperialismus, ist während des Kalten Krieges die Dekolonisierung ein wichtiges Ereignis und markiert eine Zeitenwende – das Ende der formalen Imperien. Darum geht es auch in meiner Forschung: Wer sagt, dass ein Wandel geschieht? Und was wollen und können Akteur*innen damit erreichen?

Was eine Zeitenwende ausmacht, ist also eine Frage der Perspektive?

Ja. Um ein paar Beispiele zu geben: Bundeskanzler Olaf Scholz nutzt den Begriff, um damit den starken politischen Wandel bei den Themen Bundeswehr, Waffenlieferungen und Energiepolitik zu legitimieren. In Deutschland existierte seit dem Kalten Krieg das Narrativ, dass die Welt besser und demokratischer wird und Russland ein Partner ist. Wirtschaftliche Beziehungen waren für große Teile der deutschen Politik wichtiger für Weltpolitik als militärische Macht. Wenn wir dieser Erzählung folgen, ist dieser Krieg ein Moment des Erwachens. In den USA hingegen war die politische Debatte in der letzten Dekade geprägt von der These, dass die Welt sich wieder in eine Ära des Wettbewerbs der Großmächte bewegt, mit mehr Spannungen und Konflikten zwischen den mächtigsten Staaten. Ein Krieg wie der in der Ukraine markiert dann keine Zeitenwende, sondern ist Bestätigung dieser These. Russland und China wiederum beurteilen die vergangenen 30 Jahre als zu stark vom Westen geprägt. Demnach habe dieser mit Druck und Gewalt seine eigene Ordnungsvorstellung der Welt durchgesetzt. Nun bewegt sich die Welt wieder Richtung Multipolarität mit mehreren Staaten von ähnlichem Machtpotenzial. Aus Sicht Russlands und Chinas eine gute Entwicklung, da sich ein Gleichgewicht der Mächte herstellt. Die Unterstützung der Ukraine durch die USA ist für Russland und China ein Beleg, dass die USA diese Entwicklung verhindern und die eigene Vorherrschaft erhalten möchte. Es gibt also viele verschiedene Deutungen dieses einen Ereignisses, abhängig von Perspektive und Erfahrung.

Bild von Dr. Thomas Müller
„Es geht nicht nur um politische Entscheidungen, die der Ukraine jetzt helfen sollen. Es geht langfristig um viel mehr.“
Dr. Thomas Müller

Welche Möglichkeiten der Gestaltung für diese Zeit des Umbruchs gibt es?

Erzählungen schaffen Handlungsräume. Sie lassen bestimmte Handlungsoptionen sinnvoll oder gar notwendig erscheinen und andere als unpassend. Für Scholz ist es ein schwieriger Prozess, weil er mit der Erzählung der Zeitenwende mit der bisherigen Politik und Gewissheiten brechen will. Lange Zeit galt in Deutschland der Grundsatz, dass keine Waffen in Konfliktgebiete geliefert werden. Jetzt ändert sich das. Die Diskussion über die Lieferung von Leopard-Panzern musste sowohl innerhalb der Regierung als auch mit Partnern in Europa und den USA geführt werden. In Deutschland galt als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, nie wieder alleine zu handeln und als erstes Land einen militärischen Schritt zu tun. Dass die Bundesregierung anderen den Vortritt lässt, wird im Ausland aber als Zögern ausgelegt, als Unentschlossenheit, als Unvermögen, der Ukraine zu helfen. Das Zögern hat einen weiteren Grund: Alte politische Gewissheiten sind überholt, die Regierenden operieren auf unsicherem Terrain und tasten sich vor. Dieses vorsichtige Neu- und Umorientieren passt aber vermeintlich mit dem Anspruch Deutschlands, eine Führungsrolle in Europa zu spielen, nicht zusammen. Mit einem Artikel in der Zeitschrift Foreign Affairs rechtfertigt Scholz das Agieren der Bundesregierung sogar vor der US-Öffentlichkeit. Er möchte der Wahrnehmung des Zögerns entgegentreten. Gleichzeitig argumentiert er, wie mit dem Wandel umgegangen werden soll: Scholz will zurück zur Weltpolitik vor der „Zeitenwende“. Er will den von Putin angestoßenen Wandel aufhalten und verhindern, dass Weltpolitik zu stark über die Erzählung eines neuen Kalten Krieges zwischen den USA, Russland und China gedacht wird. Er möchte damit andere Handlungsoptionen offenhalten.

Zur Person

Der Politikwissenschaftler Dr. Thomas Müller ist Akademischer Oberrat an der Fakultät für Soziologie. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben Narrativen weltpolitischen Wandels die Rolle von Großmächten in der Weltpolitik seit dem 18. Jahrhundert sowie Prozesse der Quantifizierung in der globalen Sicherheitspolitik. In seinem Seminar „Power, Peace and War (Sommersemester 2023) wird er unter anderem anhand des Ukrainekrieges untersuchen, ob größere Spannungen zwischen mächtigen Staaten die Rückkehr traditioneller Formen der Machtpolitik ankündigen.

Welche Vorstellung von Weltordnung wird sich am Ende durchsetzen?

Die Frage ist, ob andere Arten von Weltpolitik an Bedeutung gewinnen. Ob militärische Macht auf Dauer wieder wichtiger wird, Großmächte in Zukunft mehr oder weniger kooperieren. Davon hängt ab, ob globale Probleme wie der Klimawandel gelöst werden können. Führen mehr Wettbewerb und Spannungen zwischen Ländern dazu, dass der Kooperationsgrad sinkt, wird es schwerer, solchen Herausforderungen entgegenzutreten. Es geht in diesem Moment nicht nur um politische Entscheidungen, die der Ukraine helfen sollen. Es geht langfristig um viel mehr. Es geht darum, ob Großmächte besondere Rechte in der Weltpolitik haben sollen – ob sie etwa, wie Russland es faktisch fordert, die Politik ihrer Nachbarn kontrollieren dürfen – und ob die internationale Staatengemeinschaft weiterhin in der Lage ist, mit gemeinsamen Herausforderungen kooperativ umzugehen.

Im Sonderforschungsbereich 1288 „Praktiken des Vergleichens“ analysieren Sie Machtvergleiche in der Weltpolitik.

Genau, wir untersuchen dafür die Zeit zwischen 1970 und heute. Wir schauen uns anhand von vier Ländern – Deutschland, Großbritannien, den USA und Kanada – sowie der EU, der G7 und der G20 an, wie über die Machtverteilung in der Welt geredet wurde und wie sich die Wahrnehmungen dieser Machtverteilung geändert haben. Wir untersuchen, wie Staaten Erzählungen des Machtwandels politisch für sich nutzen. Diese Narrative schaffen politische Visionen und setzen Themen auf die Agenda. Das Narrativ der Zeitenwende ist in Deutschland ein Paradebeispiel, weil es militärische Macht – und damit die Bundeswehr – wieder stärker betont. Oder nehmen wir das Narrativ des Aufstiegs Chinas. Im Teilprojekt fragen wir uns, inwieweit der Machtwettbewerb zwischen Staaten durch Narrative eines solchen Wettbewerbs hervorgebracht und befeuert wird. Die USA sagen: Wir befinden uns im Wettbewerb mit China. Sie rüsten militärisch auf und ändern ihre Wirtschaftspolitik. China agiert ähnlich. Wenn beide diesen Wettbewerb empfinden und entsprechend politisch agieren, wird er stärker. Das ist dann eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Zur Serie

Wissenschaftler*innen der Universität erläutern in dieser Serie ihre Einschätzungen zum Ukraine-Krieg aus ihrer Fachdisziplin heraus. Zuvor erschienene Interviews: