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„Auf Krisen antwortet die EU mit vertiefter Integration“


Autor*in: Ludmilla Ostermann

Mittlerweile acht Sanktionspakete haben die 27 Länder der Europäischen Union gemeinsam gegen Russland auf den Weg gebracht – auch wenn der Weg zur Einigkeit nicht immer leicht war. Die EU steht gegen die russische Invasion der Ukraine zusammen. Dr. Andreas Vasilache ist Professor für Sozialwissenschaftliche Europaforschung an der Universität Bielefeld und Deutscher Direktor des Zentrums für Deutschland- und Europastudien. Er erklärt, warum die Union gerade aus Krisen gestärkt hervorgeht – und warum Europa sich nicht langfristig auf ein starkes militärisches Engagement der USA verlassen kann.

Die EU als Friedensprojekt – inwiefern hat sich diese Rolle seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine verändert?

Die Europäische Union war als Friedensprojekt auch immer ein Projekt der Eindämmung von potenziell unfriedlichen Akteuren. Das französische Interesse zu Beginn der Integration lag etwa auch in der Eindämmung Deutschlands. Das vergessen wir leicht. Nach außen war die Europäische Integration darüber hinaus auch eine Gemeinschaftsbildung gegen eine bedrohliche Hegemonialmacht, nämlich die Sowjetunion. Die EU besinnt sich jetzt also zum Teil zurück auf diese Funktion. In den letzten Jahren und Jahrzehnten konnte man hingegen den Eindruck gewinnen, dass die Europäische Union eher ein ökonomisches als ein Friedensprojekt war.

Portraitbild von Prof. Dr. Andreas Vasilache vor der Universität Bielefeld.
Prof. Dr. Andreas Vasilache ist Politikwissenschaftler und Europaforscher an der Universität Bielefeld.

Wird Europa gestärkt aus der Auseinandersetzung um den Ukraine-Krieg hervorgehen?

Die EU ist in überraschend starker Weise geeint, trotz unterschiedlicher Interessen und Stimmen. Wir haben gesehen, dass schwere Krisen innerhalb Europas oft zu mehr institutionalisierter Integration geführt haben – auch wenn es zunächst nicht danach aussah. Zum Beispiel wurden mit der Finanzmarkt-, Banken- und Staatsschuldenkrise neue Instrumente und Institutionen eingeführt. Und der damalige Eindruck, die Krise würde zum Auseinanderfallen Europas führen, hat sich nicht bewahrheitet. In der Corona-Krise ist durch den gemeinsamen Hilfsfond und gemeinsamen Impfstoffankauf die europäische Integration wieder vertieft worden. Bislang hat die EU also auf Krisen und Desintegrationstendenzen mit einer vertieften Integration geantwortet. Ob das im Ukraine-Krieg auch der Fall sein wird, ist noch offen. Aber die starke Einigkeit lässt hoffen.

Trotzdem gibt es unterschiedliche Positionen innerhalb der EU.

Ja, doch erkenne ich keine ernsthaften Zielkonflikte. Was wir sehen, sind zum Teil unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen. Für baltische Staaten ist die Bedrohung – aus nachvollziehbaren Gründen – eine andere als für Spanien oder Portugal. Großbritannien und Frankreich verfügen über atomare Abschreckung, andere Länder der EU nicht. Diese Unterschiede können zu unterschiedlichen Herangehensweisen führen. Europa ist sich aber einig, dass die russische Invasion zurückzudrängen und dafür ein hoher Preis zu zahlen ist. Auf Regierungsebene ist das bislang Konsens. Inwieweit das in den unterschiedlichen Gesellschaften auch Konsens bleibt, lässt sich schwer einschätzen. In Deutschland zum Beispiel gibt es aktuell zwar eine Zustimmung zum bisherigen Niveau der Waffenlieferung an die Ukraine, aber keine Mehrheit für eine weitere Intensivierung der Waffenlieferungen. Bei Andauern des Konflikts können daraus Konsequenzen für Regierungen entstehen.

Portraitbild von Prof. Dr. Andreas Vasilache vor der Universität Bielefeld.

„Wissenschaft kann ein Frühwarnsystem für Konflikte sein.“

Prof. Dr. Andreas Vasilache

Welche Rolle nehmen die USA im gemeinsamen Kampf gegen die Invasion der Ukraine ein?

Die USA sind mit Abstand die größte Unterstützerin der Ukraine, auch mit Blick auf die Beschaffung von Waffen. Und schon aufgrund der US-Sicherheitsgarantien im Rahmen der NATO werden die USA von den Staaten der EU als eine wichtige Führungsmacht gesehen. Gleichzeitig ist das langfristig ein riskantes Spiel, denn in der Gesellschaft der USA ist die russische Invasion zwar ein wichtiges Thema, aber doch nicht so zentral, wie wir uns das wünschen. Die USA sind stärker mit sich selbst beschäftigt, sie kommen aus zwei Jahrzehnten intensiven militärischen Engagements. Es gibt eine gewisse Kriegsmüdigkeit, und die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft hat noch nicht geahnte Ausmaße angenommen. Nach den Erfolgen der Republikaner bei den Midterms – auch wenn die Erfolge weniger deutlich ausgefallen sein mögen als erwartet – ist eine weitere Verstärkung der innenpolitischen Fokussierung in den USA zu erwarten. Teile der republikanischen Partei hängen einem gleichermaßen isolationistischen wie russlandfreundlichen Autoritarismus an. Außerdem verändern sich die USA auch in demographischer Hinsicht: Die Einwanderung in die USA der letzten Jahre kam nur teilweise aus Europa, verstärkter aber aus anderen Teilen der Welt. Die Verbundenheit zu Europa nimmt ab.

Muss Europa also zukünftig umdenken?

Das bis in die 1990er-Jahre für selbstverständlich gehaltene Interesse der USA an Europa schwindet. Aufgrund der Sicherheitsgarantien der USA konnte Europa viele Jahrzehnte lang einer positiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung den Vorrang vor Ausgaben im militärischen Bereich geben. Europäische Politiker*innen konnten davon ausgehen, dass die USA durch ihr Engagement diese Kosten für Europa tragen. Es ist sehr schwer, aus einer solchen Struktur herauszukommen. Nicht nur in Deutschland werden mit Diskussionen um Erhöhungen des Militär-Etats oder gar um atomare Bewaffnung keine Wahlen gewonnen. Durch die Invasion Russlands in die Ukraine könnte nun ein Umdenken stattfinden. Zumindest wird diskutiert.

Zur Person

Prof. Dr. Andreas Vasilache ist Professor für Sozialwissenschaftliche Europaforschung an der Universität Bielefeld und Deutscher Direktor des Zentrums für Deutschland- und Europastudien (ZDES/CGES). Zu seinen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten gehören unter anderem Internationale Beziehungen, European Studies, Grenz- und Weltgesellschaftsforschung und Interkulturalität sowie die Beziehungen zwischen Europa und Russland.

Blicken wir nach Osteuropa: Wie ist die Position Wladimir Putins seit Beginn des Krieges einzuordnen?

Die Radikalisierung, die wir bei Putin sehen, ist eine Entwicklung mindestens der vergangenen zehn Jahre. Seit spätestens 2012 können wir innerhalb Russlands eine Re-Autokratisierung ausmachen, die stark einhergeht mit revanchistischen, nationalistischen und imperialen Ideen. Die jüngere Historie der Kriege Russlands in Tschetschenien, Transnistrien, Georgien und in der Ukraine seit 2014 zeigen dies. Ebenso das intellektuelle Leben in Russland: In den regierungsnahen Think Tanks und Netzwerken, erkennbar zum Beispiel anhand der Themen im Valdai-Club, schreitet diese Entwicklung schon länger voran. Putin und der Kreml wähnen sich offenbar im Kampf gegen den imperialen Zerfall – und machen ihn dadurch nur noch deutlicher.

Welche Bedeutung kommt Ihrer Forschung im Umgang mit Konflikten und Kriegen zu?

Forschung kann dazu beitragen, bestimmte Entwicklungen früher wahrzunehmen. Die Wissenschaft kann neue Dynamiken in einer Gesellschaft erkennen und ein Frühwarnsystem auch für Konflikte sein. Sie kann zudem innerhalb eines Konflikts besonders vulnerable Gruppen identifizieren und Maßnahmen zur Konfliktlösung vorschlagen. Inwieweit wissenschaftliche Empfehlungen in praktische Politik umgesetzt werden, ist eine andere Frage. Wissenschaft kann in ihren Analysen auch eine Unterscheidung zwischen wünschenswerten und realistischen Aussichten machen – und das stärker sachbezogen und nüchterner, als dies im öffentlichen Diskurs der Fall ist.

Sie sind Deutscher Direktor des Zentrums für Deutschland- und Europastudien mit Sitz in Bielefeld und St. Petersburg. Die Kooperation mit ihrer russischen Partneruniversität pausiert. Wie gehen Sie mit dieser Situation um?

Wir haben die Zusammenarbeit mit der Universität St. Petersburg unmittelbar nach Beginn des russischen Überfalls ausgesetzt. Die allermeisten unserer russischen Mitarbeiter*innen und Kooperationspartner sind aufgrund ihrer Gegnerschaft zum russischen Angriffskrieg und aufgrund der politischen Repression aus Russland geflohen. Eine institutionelle Kooperation mit russischen Einrichtungen wäre im Bereich der Gesellschaftswissenschaften aktuell auch nur wenig gewinnbringend: Die russischen Universitäten und Forschungseinrichtungen unterstehen der Regierung, eine inhaltlich freie und offene Kooperation wäre zurzeit nicht möglich. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit liegt nun auf den Bielefelder Zentrumsaktivitäten. Dabei arbeiten wir mit auch mit geflüchteten Wissenschaftler*innen zusammen.

Das ZDES

Das Zentrum für Deutschland- und Europastudien (ZDES/CGES) ist ein wissenschaftliches Lehr-, Forschungs- und Austauschprojekt, das von der Universität Bielefeld und der Staatlichen Universität St. Petersburg getragen und durch den DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amts gefördert wird. Derzeit ist die Kooperation ausgesetzt.

Zur Serie

Wissenschaftler*innen der Universität erläutern in dieser Serie ihre Einschätzungen zum Ukraine-Krieg aus ihrer Fachdisziplin heraus. Zuvor erschienene Interviews: