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„Vergleiche mit dem Holocaust relativieren Geschichte“


Autor*in: Ludmilla Ostermann

Putin ist wie Stalin oder Hitler, Mariupol ist das zweite Stalingrad: In der Berichterstattung über die russische Invasion in der Ukraine werden viele Vergleiche bemüht. Das hilft uns einerseits beim Verstehen der Situation. Zugleich können Vergleiche gefährlich sein: „Sie sind nämlich nicht neutral, sondern können manipulieren“, sagt die Historikerin Professorin Dr. Antje Flüchter. Die Sprecherin des Sonderforschungsbereichs 1288 „Praktiken des Vergleichens“ (SFB 1288) erklärt, was einen guten Vergleich ausmacht und warum mancher Vergleich gemieden wird.

Putin-Hitler-Vergleiche sind seit dem Beginn des Ukraine-Krieges in den Medien keine Seltenheit. Haben sich die Grenzen des nun Sagbaren verschoben?

Ja, das haben sie. Saddam Hussein wurde auch mit Hitler oder Stalin verglichen. Damals kam uns das sehr bombastisch vor. Das ist viel alltäglicher geworden, weil jetzt Grausamkeiten wie das Massaker von Butscha in unserer Nähe passieren, womit wir nicht gerechnet haben. Die US-Historikerin Anne Applebaum schreibt, dass die Propaganda unter Putin und dem Dritten Reich sehr ähnlich abläuft, dass das „Z“ ähnlich wie das Hakenkreuz funktioniert und dass eine ähnliche Sprache eingesetzt wird. Dieser Vergleich erklärt uns einerseits sehr viel, funktioniert aber nur, wenn wir davon ausgehen, dass die verglichenen Systeme faschistisch sind. Das ist schwierig, denn je nach Perspektive ändert sich die Sicht darauf, was faschistisch ist.

Bil der Person: Professorin Dr. Antje Flüchter, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie
Prof’in Dr. Antje Flüchter ist Sprecherin des SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens“ und Professorin für Frühe Neuzeit.

Warum vergleichen wir überhaupt?

Vergleiche erklären und bewerten. Wir brauchen Vergleiche, um Dinge zu verstehen, die wir noch nicht kennen, und um Anderen Dinge zu erklären. Wenn Vergleiche gut ‚gemacht‘ sind, können sie sehr überzeugend sein. Darin liegt aber auch die Gefahr. Vergleiche sind nämlich nicht neutral oder objektiv, sondern können manipulieren – zum Positiven wie Negativen. Deshalb schauen wir uns im SFB 1288 Vergleiche genauer an. Ein einfaches Beispiel: Wenn ich Äpfel vergleiche, kann ich es nach Geschmack oder Preis tun. Je nachdem, welches Vergleichskriterium ich benutze, erhalte ich ein anderes Ergebnis. Mir muss klar sein, dass ich die Kriterien wähle. Wenn ich dann Länder oder gar Menschen vergleiche, kann es gefährlich werden. Unser Verständnis westlicher Dominanz und Überlegenheit speist sich zu großen Teilen aus solchen Vergleichen. Und diese Vergleiche haben in der Bewertung der Situation in der Ukraine einen aktuellen Bezug.

Bild der Person: Professorin Dr. Antje Flüchter, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie

Wenn Vergleiche gut ‚gemacht‘ sind, können sie sehr überzeugend sein. Darin liegt aber auch die Gefahr. Vergleiche sind nämlich nicht neutral oder objektiv, sondern können manipulieren – zum Positiven wie Negativen.

Prof’in Dr. Antje Flüchter

Woran können wir hier festmachen, ob eine Analogie gut oder schlecht, legitim ist oder hinkt?

Wir müssen zwischen funktionalen und moralisch-normativen Vergleichen unterscheiden. Funktional ist ein Vergleich selbstverständlich gut, wenn er funktioniert. Als Frühe-Neuzeit-Historikerin bespreche ich mit Studierenden das Heilige Römische Reich. Damit sie keine Märchenkönig-Idee bekommen und denken, der Kaiser befahl und der König von Bayern folgte, vergleiche ich das Reich mit der Europäischen Union, wo auch Brüssel Italien nicht einfach sagen kann, was es zu tun hat. Der Vergleich hinkt natürlich, aber er erklärt wichtige Aspekte der damaligen Verhältnisse. Außerdem müssen wir zwischen Wissenschaft und Journalismus oder öffentlichem Diskurs unterscheiden: Wenn ich als Zeitgenossin berichte und etwas erkläre, muss ich meine Sprecherinnenposition reflektieren und überlegen, welche Vergleiche angemessen sind. Wenn ich der Pressesprecher von Putin bin, wähle ich andere Vergleiche. Für mich als Antje Flüchter hier in Bielefeld sind die vollkommen illegitim, für ihn stellt sich das anders dar.

Zur Person

Die Historikerin Dr. Antje Flüchter ist Professorin für Frühe Neuzeit an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie an der Universität Bielefeld. Sie ist Mitglied des Ausschusses des Verbandes Historiker und Historikerinnen Deutschlands. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, der Wissens- und Geschlechtergeschichte sowie der Theorie der Geschichte.

Ist es dasselbe, ob Deutsche diese Vergleiche ziehen oder etwa Ukrainer*innen?

In Deutschland sind wir zu Recht sehr vorsichtig damit, mit dem Dritten Reich zu vergleichen, besonders mit dem Holocaust. Denn wenn wir etwas mit dem Holocaust vergleichen, verführt dies oft zu dessen Relativierung und zur Relativierung unserer Verantwortung. Sprechen wir von Putins Krieg, folgt ein: Naja, aber die Menschen in Russland stimmen dem ja zu. Dann sind wir nicht weit von: Die Russen sind also mit an der Situation schuld, so wie wir Deutschen es damals auch waren. Und mit diesem Vergleich wird die Schuld der Deutschen relativiert. Ich persönlich finde, wir Deutsche dürfen den Holocaust nicht vergleichen. Wenn die ukrainische Regierung den Vergleich zieht, will sie auf die geschehenen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen hinweisen. Ihr Ziel ist es, Hilfe zu bekommen. Und ich tue ich mich schwer damit, von Deutschland aus jemandem, der die Eroberung und Belagerung von Mariupol miterlebt hat, zu sagen, er oder sie dürfe dies nicht mit dem Zweiten Weltkrieg oder den Nazis vergleichen.

Wie angebracht ist ein Vergleich der Situation in der Ukraine mit dem Konflikt zwischen China und Taiwan?

Der Vergleich zeigt, dass China und Russland Weltmächte sind. Beide haben mit fadenscheinigen historischen Gründen Anspruch auf ein kleineres Land erhoben. Die einen sind schon einmarschiert, die anderen drohen damit. Es gibt also strukturelle Ähnlichkeiten. Bleibt die Frage: Was bringt dieser Vergleich? Oder noch interessanter: Was vergleichen wir in dem Moment nicht? Als Saddam Hussein Kuwait angriff, mischten sich die USA ein und der Zweite Golfkrieg begann. Dieser Vergleich wird nicht bemüht, weil er lauter Fragen aufwerfen würde. Etwa, dass der Westen bei einem Land, dass besiegbar ist, doch eingreifen kann. Zu Beginn der russischen Invasion gab es Bilder von zerstörten Städten, die in den Nachrichten mit Bildern aus Dresden und Syrien verglichen wurden. Man hätte auch Bilder aus Mossul zeigen können. Das wäre möglich, aber der Vergleich von ukrainischen Städten mit Mossul würde Russland oder Putin nicht mehr mit Hitler oder Nazideutschland vergleichen, sondern mit den USA und der Nato. Es ist also genauso interessant, was man sich nicht zu vergleichen traut, weil die Vergleiche uns ganz anders zum Nachdenken bringen würden.

Der Sonderforschungsbereich 1288

„Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“ lautet der volle Titel des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288. Die Forschungseinrichtung untersucht die Geschichte der Vergleichspraktiken von der Antike bis zur Gegenwart. Zum SFB 1288 gehören rund 50 Wissenschaftler*innen aus Geschichtswissenschaft, Germanistik, Kunstgeschichte, Romanistik, Philosophie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft. Die Forschenden widmen sich den gesellschaftlichen und kulturellen Ursachen, den Verfahren und den Effekten des Vergleichens als vielfältige Praxis. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert den SFB seit 2017.

Zur Serie

Wissenschaftler*innen der Universität erläutern in dieser Serie ihre Einschätzungen zum Ukraine-Krieg aus ihrer Fachdisziplin heraus. Zuvor erschienene Interviews: