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„Zu lange wurde die Perspektive Osteuropas vernachlässigt“


Autor*in: Universität Bielefeld

„Diktatoren tun, was sie sagen und sagen, was sie tun. Das ist eine der Lehren aus dem 20. Jahrhundert“, sagt die Historikerin Professorin Dr. Christina Morina von der Universität Bielefeld. Sie erklärt, wie sich aus diesen Erfahrungen Lehren für die Gegenwart und die Zukunft ableiten lassen, auch bezogen auf den Ukraine-Krieg. „Wir wissen aus der Geschichte, dass Diktatoren dazu neigen, so lange Grenzen nach innen und außen zu missachten und zu überschreiten, so lange ihnen kein wirksamer Widerstand entgegentritt.“ Im Interview spricht die Wissenschaftlerin darüber, warum der Vergleich zum Zweiten Weltkrieg – trotz überwiegender Unterschiede – lehrreich sein kann und über ihre Einschätzung der aktuellen Situation.

Welche Parallelen sehen Sie zwischen dem Ukraine-Krieg und dem Zweiten Weltkrieg?

Auffällig ist die völkisch-imperiale Logik, mit der beide Kriege gerechtfertigt wurden: Putin argumentiert, die bestehenden Landesgrenzen würden Russland nicht gerecht, Russland sei größer als die derzeitigen Grenzen. Gleichzeitig erkennt er die Souveränität der Ukraine als unabhängigen Staat nicht an. Er sieht sie als künstliches Konstrukt, das vom Westen gelenkt und von Nazis geführt werde, die ukrainische Bevölkerung fasst er als „Brudervolk“ auf. Und er erklärt die dort lebenden Russen für bedroht und rechtfertigt mit diesem Bündel an Vorwänden den Einmarsch seiner Armee. Eine ähnliche Argumentation hat Hitler zu Beginn des Zweiten Weltkrieges auch genutzt: Im Interesse des eigenen Volkes wurde der vermeintlich den Deutschen zustehende „Lebensraum“ gewaltsam vergrößert, umliegende Länder dem eigenen Einflussgebiet einverleibt, bestehende Verträge gebrochen und – allerdings gleich an mehreren Fronten – ein offener Angriffskrieg geführt.

„Es war eine Fehlkalkulation zu glauben, man könne Russland unter Putin durch wirtschaftliche Beziehungen „einhegen“ und gewissermaßen von außen demokratisieren“, sagt die Historikerin Prof´in Dr. Christina Morina.

Welche Unterschiede sehen Sie?

Zwei zentrale Unterschiede sehe ich in der Relevanz militärischer Bündnisse und in der Verfügbarkeit von nuklearen Waffen. Die Ukraine ist momentan in kein Militärbündnis eingebunden, der NATO gehört sie bisher nicht an. Dadurch ist der Ukraine-Krieg zunächst einmal ein zwischenstaatlicher Konflikt, der regional beschränkt ist. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war hingegen maßgeblich an eine andere Logik der Bündnisse und Allianzen gebunden. Durch diese Bündnislogik erwuchs aus dem deutschen Angriffskrieg gegen Polen im September 1939 schnell ein Mehrstaatenkonflikt mit kontinentaler und letztlich globaler Reichweite.
 
Ein weiterer Unterschied ist die heutige Verfügbarkeit von nuklearen Waffen. Russland ist eine Atommacht, das überschattet diesen aktuellen Konflikt von Anfang an. Im Zweiten Weltkrieg spielten Atomwaffen hingegen erst an dessen Ende eine mitentscheidende Rolle. Es stellt sich heute also die Frage, wie man damit umgeht, dass Putin zu jedem Zeitpunkt atomare Waffen einsetzen kann und damit droht. Die westlichen Staaten wägen vor diesem Schreckensszenario selbstverständlich sorgsam ab, wie die Unterstützung für die Ukraine aussehen kann und welche Konsequenzen sie möglicherweise hat.

Wenn es um die Frage geht, wie Verbündete auf den Ukraine-Krieg reagieren sollten, sehnen sich viele Menschen in der aktuellen Lage nach Orientierung. Was können wir aus der Vergangenheit lernen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zum Beispiel die Frage diskutiert, wie Hitler in seiner Radikalität und Machtgier so dermaßen unterschätzt werden konnte. Ich glaube, ein Ergebnis dieser intensiven Auseinandersetzung liegt in der Einsicht, dass Diktatoren überwiegend dazu neigen das zu tun, was sie sagen und das zu sagen, was sie tun. Wenn man überhaupt von den „Lehren des 20. Jahrhunderts“ sprechen möchte, dann ist dies sicher eine bedenkenswerte Einsicht. Wenn also Putin davon spricht, dass die Ukraine kein Existenzrecht habe, oder von einem Reich die Rede ist, das „von Lissabon bis Wladiwostok“ reicht, sollte man das sehr ernst nehmen.

Welche Verhandlungsposition hat die Bundesregierung Ihrer Meinung nach?

Ich kann das aus der Ferne nur schwer einschätzen. Diktatoren testen Grenzen konstant und meist solange immer weiter aus, bis ihnen wirksamer Widerstand entgegentritt. Zugleich ist die Frage, mit welchem „Ziel“ sich Putin zufriedengeben würde, sehr schwer zu beantworten. Dennoch halte ich es für einen Fehler, darauf zu hoffen, dass er aus eigenem Antrieb den Krieg stoppen wird. Die wahrscheinlich wirksamsten Maßnahmen sind ein effektiver Widerstand der Ukraine und eine starke Gegenreaktion der westlichen Staatenwelt, die Grenzen klar benennt. Putin greift bislang keine NATO-Länder an, er akzeptiert diese Grenze ganz offenbar, weil die verbündete politische, ökonomische und militärische Macht, die dahinter steht, abschreckend wirkt. Aus meiner Sicht sollte man dieser Aggression um Einiges dezidierter und mit einer klareren Strategie entgegentreten.

Welche Szenarien zum Ausgang des Krieges halten Sie für vorstellbar?

Als Historikerin kann ich nur sagen, was ich befürchte und was ich hoffe. Ich befürchte, dass sich der Ukraine-Krieg noch über Jahre fortsetzen könnte. Gleichzeitig werden die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen für die sanktionierenden Staaten zunehmend belastend. Momentan merken wir das beispielsweise an den Energie- und Nahrungsmittelpreisen: Steigende Gaspreise dominieren mittlerweile die Nachrichten, während das nach wie vor entsetzliche Kriegsgeschehen in den Hintergrund rückt. Es könnte sein, dass wir an einen Punkt kommen, an dem Regierungen unabhängig vom Kriegsverlauf auf einen Waffenstillstand drängen, weil die wirtschaftlichen und sozialen Sorgen so schwer wiegen. Dadurch würde es zu einem eingefrorenen Krieg kommen. Das wäre nachvollziehbar, aber für die Ukraine fatal, und ich hielte es auch für politisch verfehlt.
 
Ich hoffe jedoch, dass die Ukraine eine reale Chance auf einen Beitritt in die EU hat und alle osteuropäischen Länder zukünftig eine souveränere Stimme innerhalb Europas erhalten und damit endlich eine ihrer Lage angemessene Mitsprache. Zu lange haben zu viele Staaten der EU die Stimmen der osteuropäischen Länder zu wenig gehört. Warum das so war, auch und gerade in Deutschland, warum die Prämissen der deutschen Russlandpolitik viel zu spät revidiert wurden, obwohl es immer auch fundierte Kritik daran gab, ist eine ebenso wichtige wie offene Frage. Es war eine Fehlkalkulation zu glauben, man könne Russland unter Putin durch wirtschaftliche Beziehungen „einhegen“ und gewissermaßen von außen demokratisieren. Wir müssen dringend aufarbeiten, wie es zu diesen Fehlannahmen kommen konnte.
 
Aber: Jedes historische Ereignis hat seinen eigenen Kontext und seine eigene Dynamik. Die politischen und militärischen Bündniskonstellationen, die wirtschaftliche Lage, die Kommunikationsfähigkeit der Regierung, der mögliche Einstellungswandel der Bevölkerung gegenüber dem Krieg und nicht zuletzt das Kriegsgeschehen selbst sind einige der Faktoren, von der die weitere Entwicklung dieses Konflikts abhängt. Sie ist offen bzw. kontingent, wie es Historiker*innen formulieren würden. Das heißt auch, wir haben Einfluss darauf. Wenn man nach ein wenig Hoffnung in den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sucht, dann würde ich darauf verweisen, dass sich liberale, demokratische Gesellschaften als die bislang stabileren erwiesen haben. Eine Gesellschaft, die auf Angst, Gewalt und Unterdrückung nach innen und außen basiert, ist stets latent instabil und kann auf Dauer nicht funktionieren.

Zur Person

Die Historikerin Dr. Christina Morina ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Gesellschafts- und Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus, in der politischen Kulturgeschichte des geteilten und vereinigten Deutschlands sowie in dem Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis.

Zur Serie

Wissenschaftler*innen der Universität erläutern in dieser Serie ihre Einschätzungen zum Ukraine-Krieg aus ihrer Fachdisziplin heraus. Zuvor erschienene Interviews: