Polen leistet seit Beginn der Invasion Russlands wichtige humanitäre, militärische und logistische Unterstützung für die Ukraine. Es ist Drehkreuz für die Aufnahme von Geflüchteten und Lieferungen von Waffen aus dem Westen. Die Historikerin Professorin Dr. Kornelia Kończal erklärt, wie sich die Rolle Polens innerhalb der EU durch die große Solidarität mit dem Nachbarland verändert hat und warum sie vor dem Hintergrund der tragischen gemeinsamen Geschichte alles andere als selbstverständlich ist.
Wie hat sich Polens Position in der EU durch die große Hilfsbereitschaft des Landes verändert?
Seit Kriegsbeginn ist der Streit über die Rechtsstaatlichkeit in Polen nicht mehr das zentrale Thema in der Kommunikation zwischen Brüssel und Warschau. Polen ist logistische Drehschreibe für die militärische Unterstützung des Westens und die polnische Ukraine-Expertise wird von internationalen Partner*innen geschätzt. Auch Besuche westlicher Politiker*innen in der Ukraine sind ohne Zusammenarbeit mit Polen nicht denkbar: Da Flüge aus Sicherheitsgründen unmöglich sind, steigen westliche Politiker*innen – wie kürzlich der US-Präsident Joe Biden – in der südostpolnischen Stadt Przemyśl in den Zug ein und reisen so nach Kiew. Das internationale Ansehen Polens verbesserte sich also deutlich.
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Worauf fußt die große Hilfsbereitschaft Polens gegenüber der Ukraine?
Die polnische Solidarität mit der Ukraine war und ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Sie liegt begründet in der Entrüstung über den eklatanten Völkerrechtsbruch durch Russland und in der geographischen Nähe: Polen ist – von Belarus abgesehen – das einzige Land, das mit dem Opfer und dem Aggressor eine Grenze teilt. Auch die US-amerikanische Unterstützung für die Ukraine mag im amerikafreundlichen Polen eine Rolle spielen. Ein wichtiger Faktor ist bestimmt die ukrainische Vorkriegsmigration nach Polen. Von zentraler Bedeutung sind jedoch Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Der russische Angriff auf die Ukraine hat in Polen eine Assoziationskette aktiviert. Historische Ereignisse aus den Jahren 1939 bis 1945, wie die sowjetische Invasion Polens, Deportationen polnischer Staatsbürger*innen in die Sowjetunion oder Stalins fehlende Unterstützung für den Warschauer Aufstand vermengen sich in ein Gesamtbild der aus dem Osten kommenden Bedrohung. Die Solidarität mit der Ukraine ist für Polen existenziell wichtig.
Wie unterscheidet sich die Einstellung Polens zum Krieg in der Ukraine im Vergleich zu etwa der deutschen?
Im Kontrast zu Deutschland wird in Polen nicht nur die humanitäre, sondern auch die militärische Unterstützung für die Ukraine als unstrittig angesehen. Öffentliche Debatten über Waffenlieferungen gibt es in Polen genauso wenig wie die Politik des Zögerns und Zauderns, wie sie sich in der Bundesregierung immer wieder zeigt. Während es eine Weile dauerte, bis deutsche Medien kompetente Militärexpert*innen identifizierten, äußerten sich in den polnischen Medien von Anfang an Menschen mit fundierten Sach- und Sprachkenntnissen, sodass Informationen über die Situation an der Front umfassender und genauer waren – und sind – als in Deutschland. Außerdem spielen in Polen Stimmen, die die russische Propaganda reproduzieren, kaum eine Rolle. Anders als im Osten Deutschlands, aber auch Tschechien und Serbien, gab es in Polen bisher keine nennenswerten antiukrainischen oder prorussischen Demonstrationen.
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Sie forschen zu populären Geschichtsbildern und wie diese von Politik und Gesellschaft genutzt und beeinflusst werden. Welche Bilder bestimmten zuletzt den öffentlichen Diskurs in Polen gegenüber der Ukraine?
Das polnische Bild der Ukrainer*innen ist maßgeblich von der Vergangenheit geprägt. Das historische Ereignis, das die kollektive Identität der Pol*innen bis heute stärker als jedes andere prägt, ist der Zweite Weltkrieg. Das polnische Ukrainebild bestimmt vor allem die Erinnerung an die blutigen Ereignisse, die sich 1943 in Wolhynien, einem Gebiet zwischen der Ukraine und Polen, abgespielt haben. Schon die gängigen Bezeichnungen dieser Ereignisse – „wolhynische Tragödie“ (volynska trahediia) im Ukrainischen und „wolhynisches Gemetzel“ (rzeź wołyńska) im Polnischen – veranschaulichen, wie unterschiedlich sie in beiden Gesellschaften interpretiert werden.
Die polnisch-ukrainischen Beziehungen waren also nicht immer konfliktfrei.
Seit dem 14. Jahrhundert sind die polnisch-ukrainischen Beziehungen von Nähe und Distanz geprägt. Anfang 1943 eskalierte der polnisch-ukrainische Konflikt jedoch in den von Deutschland besetzten Gebieten zu einem blutigen Bürgerkrieg: Ukrainische Nationalist*innen warben für die Depolonisierung der von Ukrainer*innen bewohnten Gebiete Vorkriegspolens – bis zu 100.000 Pol*innen wurden in den Regionen Wolhynien und Polesien ermordet. Daraufhin ermordete die polnische Heimatarmee bis zu 20 000 Ukrainer*innen. Die Erinnerungen von Überlebenden auf beiden Seiten strotzen vor Beschreibungen extremer Brutalität der Täter. Ein weiteres Kapitel der polnisch-ukrainischen Gewaltgeschichte sind Zwangsmigrationen: Um 1945 wurden 600.000 Pol*innen aus der Sowjetukraine nach Polen und etwa 500.000 Ukrainer*innen aus Polen in die Sowjetukraine ausgesiedelt. 1947 siedelten die polnischen Behörden 140.000 im Südostpolen verbliebene Ukrainer in die einst deutschen Gebiete um, die Polen als Kompensation für die im Osten zugunsten der Sowjetunion verlorenen Territorien bekam. Ziel war es, weitere polnisch-ukrainische Konflikte zu vermeiden. In den folgenden Jahrzehnten wurden diese grausamen Ereignisse tabuisiert. Eine Aufarbeitung erfolgt zwar seit den 1990er-Jahren, aber vor Kriegsausbruch befand sich die polnisch-ukrainische Debatte über die Vergangenheit in einer Sackgasse.
Wie verkraftet die polnische Gesellschaft den Zustrom ukrainischer Geflüchteter?
Die große ukrainische Dankbarkeit für Polens Hilfe stärkt den polnischen Willen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen – trotz hoher Inflation und steigender Energiepreise. Die Konkurrenz um knappe Ressourcen wie Wohnraum, medizinische Versorgung und Kitaplätze, verbunden mit der in Polen langen Tradition antiukrainischer Gefühle führen aber immer wieder zu Spannungen im neuen polnisch-ukrainischen Alltag. Es bleibt offen, inwieweit Polens rechte und rechtsextreme Politiker*innen die Flüchtlingsfrage vor den Parlamentswahlen im Herbst instrumentalisieren werden. Die Verbindung von polnischer Solidarität und ukrainischer Dankbarkeit könnte auf jeden Fall eine Art nachholende polnisch-ukrainische Versöhnung in Gang setzen. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit den hart umkämpften Interpretationen der gemeinsamen Geschichte müsste Teil dieses Prozesses werden.
Zur Serie
Wissenschaftler*innen der Universität erläutern in dieser Serie ihre Einschätzungen zum Ukraine-Krieg aus ihrer Fachdisziplin heraus. Zuvor erschienene Interviews:
- Prof. Dr. Andreas Zick (23.03.2022): „Müssen Wissen, wo sich noch Gewaltszenarien anbahnen“
- Prof. Dr. Frank Grüner (31.03.2022): „Putin verzerrt und instrumentalisiert die Geschichte“
- Prof’in Dr. Véronique Zanetti (14.04.2022): „Ein Atomkrieg ist um jeden Preis zu vermeiden“
- Dr. Leif Seibert (12.05.2022): „Putin und Kyrill profitieren beidseitig von Legitimation”
- Juniorprofessor Dr. Julian Hinz (14.06.2022): „Russland hat seine wirtschaftliche Zukunft verspielt”
- Prof’in Dr. Christina Morina (21.07.2022): „Zu lange wurde die Perspektive Osteuropas vernachlässigt“
- Prof’in Dr. Antje Flüchter (04.10.2022): „Vergleiche mit dem Holocaust relativieren Geschichte“
- Prof. Dr. Peter Bernard Ladkin (25.10.2022): „Das Hollywood-Bild von Hacker*innen führt in die Irre“
- Prof. Dr. Andreas Vasilache (11.11.2022): „Auf Krisen antwortet die EU mit vertiefter Integration“
- Dr. Matthias Buschmeier (01.12.2022): „Ein Boykott raubt einer Kultur ein Stück ihres Erbes“
- Dr. Thomas Müller (22.02.2023): “Alte politische Gewissheiten sind überholt”