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Fassade der Universität mit blau-gelbem Farbverlauf

„Ein Boykott raubt einer Kultur ein Stück ihres Erbes“


Autor*in: Ludmilla Ostermann

Was uns an Geschriebenem aus der Ukraine erreicht, sind vor allem Medienberichte. Ukrainische Autor*innen tragen ihren Teil dazu bei und schreiben Chroniken aus dem Kriegsalltag. Dr. Matthias Buschmeier forscht und lehrt an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Er erklärt, wie der Krieg Autor*innen eine Positionierung abverlangt und welchen Beitrag ihre Texte zur Weiterentwicklung der Gesellschaft leisten.

Der ukrainische Autor Serhij Zahdan hat zu einem Buch zusammengebundene Social-Media-Postings veröffentlicht. Himmel über Charkiw beschreibt den Alltag in einer Metropole, in der Krieg herrscht. Ist das schon Kriegsliteratur?

Zahdan versucht, seine Facebook-Texte einem traditionellen Literaturbegriff gegenüberzustellen. Nach einer solch traditionellen Vorstellung von Literatur ist sie so etwas wie eine überformte Wirklichkeitsgestaltung. Kriegsliteratur folgt meist einem solchen Verständnis: Oft ist sie Erinnerungsliteratur, die das zumeist als sinnlos erfahrene Kriegserleben nachträglich mit Bedeutung versieht. Zahdan will tagesaktueller Chronist der Ereignisse sein. Die Unmittelbarkeit der Aufzeichnung und Veröffentlichung im Internet ist aber keine bloße Strategie, denn die Erfahrung des Krieges verweigert sich für ihn einer literarischen Gestaltung im eben genannten Sinne. Spannend wird das Projekt mit der Buchveröffentlichung, denn sobald der Autor das Medium wechselt – vom Internet zur Buchform – verändert sich der Charakter des Geschriebenen. Das Textensemble wird nun als Literatur wahrgenommen, ob der Autor das will oder nicht.

Wie verhalten sich Kriegsliteratur und Geschichtsschreibung zueinander?

Kriegsliteratur muss auf eine historische Realität zugreifen, um sie gestalten zu können. Wenn man Leser*innen in eine solche erzählte Welt hineinziehen will, muss diese akkurat sein, sonst würde sie schnell abgelehnt. Kriegsliteratur ist zudem der Versuch, eine Ausnahmesituation abzubilden. Geschichtsschreibung muss stärker objektivierend schreiben. Die Literatur hat die Lizenz zur subjektiven Zuspitzung. Damit kann Literatur auch dominante nationale Narrative der Geschichtsschreibung provozieren und neue Deutungen anregen. Kriegsliteratur und Geschichtsschreibung können entsprechend in einem Konfliktverhältnis zueinanderstehen.

Bild der Person: Dr. Matthias Buschmeier, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft
Dr. Matthias Buschmeier forscht und lehrt an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft.

Inwiefern wird das Selbstverständnis einer von Russland unabhängigen Ukraine in der Literatur deutlich?

Ich bin kein Experte für die ukrainische Literatur. Aber der Beginn eines Krieges schafft eine neue Situation, die nach Eindeutigkeiten verlangt. Dieses Phänomen lässt sich in vielen Kriegen und Konflikten beobachten. Auch Intellektuelle müssen sich positionieren – dagegen oder dafür. Zahdan etwa stellt zu seiner eigenen Überraschung fest, dass er plötzlich Sätze verfasst, die ihm vor einem Jahr so nie durch die Finger gelaufen wären. Das sind sehr martialische Sätze wie „Tod allen Invasoren“, die aber ein Effekt dieser Vereindeutigung sind. In Zahdans Roman „Internat“ von 2017 gibt es diese klare Grenzziehung noch nicht. Das macht der Roman etwa deutlich, wenn er die Zweisprachigkeit der Ukraine in den eigenen Text einbaut. Kann man als ukrainischer Autor noch in russischer Sprache sprechen und schreiben? Wird die Sprache gleichsam mitschuldig? Mit der erneuten Invasion Russlands in die Ukraine sind diese Zwischentöne, die nach 2014 noch zu hören sind, verschwunden.

Sie sprechen es an: Literaturinstitutionen in der Ukraine haben zum Boykott russischer Bücher aufgerufen. Welche Folgen hat ein Krieg für die Kultur eines Landes?

Es ist nachvollziehbar, dass man die Sprache der Invasoren aussperren möchte. Es passierte schon immer eine Abwertung der Kultur des Feindes: Französische Schriftsteller*innen wurden von den Deutschen gerade im Kontext des Ersten Weltkrieges als frivol und dekadent abgewertet. In der Hochkultur jedoch waren die kulturellen Eliten noch derart verflochten, dass Boykotte nicht stattfanden. Selbst im Zweiten Weltkrieg sieht man, wie deutsche Schriftsteller*innen im Exil eine bedeutende Rolle spielen und auch von den Alliierten eingesetzt werden, obwohl die deutsche Kultur – die Romantik, Nietzsche, Wagner – schon damals als geistiger Weg in den NS beschrieben wurde. Ein Boykott setzt eine Kultur unter Druck, nicht nur Individuen. Die Ukraine ist ein Land, das sehr lange sowohl Russisch als auch Ukrainisch gesprochen hat, und dessen Kultur entsprechend aus beiden Sphären gespeist wurde. Ein Boykott läuft Gefahr einer solchen multilingualen Kultur, ein Stück ihres eigenen Erbes zu berauben und damit die Aggression der Invasoren, im Wunsch sich von ihnen abzugrenzen, gegen sich selbst zu wenden.

Bild der Person: Dr. Matthias Buschmeier, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft

„Besatzungsliteratur zeigt die Narben, die Krieg und Besatzung für eine Gesellschaft bedeuten, immer wieder aufs Neue und ermöglicht andere Perspektiven darauf.“

Dr. Matthias Buschmeier

Neben der Kriegsliteratur gibt es auch Besatzungsliteratur. Wie unterscheiden sich die beiden Genres?

In der Kriegsliteratur werden meist konkrete Kämpfe und Schlachten sowie ihre Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und Soldat*innen geschildert. Die Besatzungsliteratur beschreibt den Zustand nach den Kampfhandlungen. Die Bevölkerung findet sich in ständigen moralischen Dilemmata wieder – im Spektrum zwischen Kollaboration und Widerstand. Besatzer und Besetzte bilden hier eine Gesellschaft, ein komplexes Beziehungsgeflecht. Wer die Besatzungsliteratur aus diesen Ländern liest, dem erschließt sich die heutige baltische Reaktion auf die Aggression Russlands viel eher: Dort war die Angst vor einer Eingliederung in die Sowjetunion durch Stalin in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg so groß, dass die Deutschen zunächst nicht nur als Besatzer erfahren wurden, sondern auch als Schutzmacht gegenüber Stalin. Die sowjetische Besatzung dauerte mehr als 40 Jahre, die deutsche hatte nicht viel mehr als ein Jahr überdauert – wenngleich mit verheerenden Folgen für die jüdische Bevölkerung. Entsprechend ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Besatzung eine andere als zum Beispiel in Frankreich, wo die deutsche Besatzung knapp vier Jahre anhielt und man sich anschließend als Nation feiern konnte, die sich – mit Hilfe – selbst befreit hat. Die Überblendung verschiedener Besatzungsrealitäten ist spannend.

Zur Person

Dr. Matthias Buschmeier ist akademischer Oberrat an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft. Forschungsschwerpunkte des Literaturwissenschaftlers sind die Deutsche und Europäische Literatur des 18. bis 20. Jahrhundert, Europäische Literaturen der militärischen Besatzung sowie Kultur und Schuld. In seinem Seminar „Um 2000: Kriegsromane vom Nachkrieg bis zur Gegenwart“ (Wintersemester 2022/2023) untersucht er die romanhafte Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs und Motive wie Schuld, Scham, Erinnern und Vergessen.

Wie kann Literatur helfen, die heutige Situation einzuordnen und begreifbar zu machen?

Ich glaube, sie bringt die Situation in der Ukraine in die Vorstellungswelt von uns befriedeten Europäern. Literatur als Imaginationsmedium ermöglicht uns das vielleicht noch stärker als Medienberichte oder Filme. Aber Literatur bietet immer auch eine Distanzierungs- und Reflexionsmöglichkeit, selten folgt sie einer reinen Überwältigungsästhetik. Das Interesse an der Zeit der Besatzung in der Gegenwartsliteratur ist deshalb so groß, weil sie die langfristigen Narben, die Besatzung für eine Gesellschaft bedeuten, aufs Neue beleuchtet und andere Perspektiven darauf ermöglicht. Diese wechselnden Sichtweisen über Jahre hinweg sind wichtig für eine sich weiterentwickelnde Gesellschaft. Literatur stellt Sinn- und Weltdeutungs-Angebote bereit, die in der Gesellschaft verhandelt werden.

Kann das Schreiben von Kriegs- und Besatzungsliteratur auch Traumabewältigung sein?

Kriegsliteratur ist überwiegend männliche Literatur und wird oft von Schriftstellern verfasst, die selbst gekämpft haben: Erich Maria Remarque, Ernst Jünger, Gerd Ledig, auch Konsalik. Im Genre der Besatzungsliteratur hingegen gibt es – gerade in der Gegenwart mehr Autorinnen, etwa die finnische Autorin Sofi Oksanen oder die Belgierin Els Beerten. Der Kriegsliteratur wird oft unterstellt, sie sei individuelle Traumabewältigung. Allerdings schreiben Autor*innen nicht unmittelbar, gleichsam aus dem Traumaerleben heraus. Ihre Texte sind hochkalkuliert, gestaltet und ästhetisiert. Wenn, dann zeigt die Kriegsliteratur traumatisierte Figuren. Ob darüber hinaus die Autoren daraus einen therapeutischen Effekt zogen, ist nur individuell zu beantworten und auch weniger eine literaturwissenschaftliche Frage. Oft wird hingegen die These von der Kriegsliteratur als Bewältigungsstrategie eines Kollektivtraumas einer Nation oder einer bestimmten Gruppe behauptet. Eine individuelle Erfahrung und Theorie wie die des Traumas auf eine ganze Gesellschaft hochzurechnen, ist aber sehr voraussetzungsreich und für mich eher problematisch.

Serhij Zahdan

„Himmel über Charkiw“ ist im Suhrkamp-Verlag erschienen. Der im Donbass aufgewachsene ukrainische Schriftsteller und Musiker Serhij Zahdan versammelt darin Facebook-Posts und Tweets aus den Monaten seit Ausbruch des Krieges. Sie dokumentieren sein eigenes Engagement und das vieler anderer Helfer. Das Buch wurde mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 ausgezeichnet.

Zur Serie

Wissenschaftler*innen der Universität erläutern in dieser Serie ihre Einschätzungen zum Ukraine-Krieg aus ihrer Fachdisziplin heraus. Zuvor erschienene Interviews: