„In der Coronakrise spitzen sich bekannte Probleme in der Altenpflege zu“, sagt die Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin Professorin Dr. Kerstin Hämel. Sie bemängelt, dass viele Menschen mit Pflegebedarf derzeit noch stärker als bisher sozial isoliert seien. Das bedrohe ihre psychosoziale Gesundheit. Wie Kerstin Hämel die aktuelle Lage einschätzt:
„Aktuell verschärfen sich Bedingungen in der Altenpflege, die ohnehin schon problematisch sind: Kostendruck, Fachkräftemangel, chronische Unterbesetzung und Zeitdruck. Diese Missstände erschweren es Pflegekräften, sich den Pflegebedürftigen individuell zuzuwenden und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. In der Coronakrise sind vielmehr isolierte und überlastete Pflegesituationen zu befürchten, die begünstigen, dass Menschen mit Pflegebedarf vernachlässigt werden.
Menschen mit Pflegebedarf sind besonders schutzbedürftig: Sie gehören zu den Hochrisikogruppen für schwere Verläufe bei Corona-Infektionen. Die hohe Sterberate unter infizierten Bewohner*innen von Pflegeheimen ist dramatisch. Derzeit konzentriert sich die Diskussion immer noch auf Pflegeheime. Doch nötig sind auch Strategien der Politik für Menschen, die in ihrem Zuhause leben und gepflegt werden – das sind in Deutschland drei Viertel und damit die Mehrheit aller Menschen mit Pflegebedarf. Wie steht es um ihre Gesundheit? Wie können sie in den nächsten Monaten ihre sozialen Kontakte pflegen, welche Unterstützungsangebote nutzen? Solche Angebote reichen von Betreuungsgruppen und Tagespflege über Hilfe im Haushalt bis hin zur Begleitung zum Einkauf. Schon vor der Krise fehlte es in der häuslichen Pflege in vielen Regionen Deutschlands an breit gefächerten Unterstützungsangeboten.
Politische Maßnahmen müssen auch die Menschen berücksichtigen, die die häusliche Pflege übernehmen: ambulante Pflegedienste, privat engagierte Haushalts- und Betreuungskräfte und pflegende Angehörige. Viele pflegende Angehörige sind momentan zusätzlich überfordert, weil sie nicht wissen, wie sie das Ansteckungsrisiko verringern können. Sie brauchen Informationen und Beratung. Pflegende Angehörige brauchen bessere Rahmenbedingungen, beispielsweise um Erwerbstätigkeit und Pflege vereinbaren zu können.
Bei allem notwendigen Schutz vor der Corona-Infektion – soziale Teilhabe ist essenziell für Gesundheit. In den Heimen gelten strenge Besuchsregeln, Freizeitangebote fallen aus. In der häuslichen Pflege fehlen tausende ausländische Betreuer*innen, die wegen der Coronakrise das Land verlassen haben. Studien zeigen, dass fehlende soziale Kontakte nicht nur zu Depression und Lethargie führen können. Sie führen indirekt auch zu körperlichen Leiden. Pflegebedürftige zum Infektionsschutz vom sozialen Leben auszugrenzen, gefährdet ihre Gesundheit.
Besonders jetzt in der Krise kommt es darauf an, dass Pflegebedürftige am sozialen Leben teilhaben können. Digitale Kommunikationsmittel – und zwar solche, die leicht anwendbar sind – können helfen, Distanz zu überbrücken. Das ersetzt aber auch keine persönlichen Begegnungen. Daher sind weiterhin innovative Lösungen nötig, die hohen Infektionsschutz gewährleisten und Menschen mit Pflegebedarf gleichzeitig ermöglich, sich mit anderen Menschen zu treffen und sozial eingebunden zu sein.“
Aufgezeichnet von Jörg Heeren
Professorin Dr. Kerstin Hämel forscht zu Teilhabe und Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf. Seit 2014 ist sie Professorin für Gesundheitswissenschaften mit dem Schwerpunkt Pflegerische Versorgungsforschung an der Universität Bielefeld. Sie ist Mitglied des Vorstands der Sektion IV Soziale Gerontologie und Altenarbeit der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG). In einer aktuellen Stellungnahme gehen sie und ihre Vorstandskolleginnen darauf ein, was die Coronakrise für die Teilhabe und Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf bedeutet.