Der Historiker Dr. Franz Mauelshagen von der Universität Bielefeld forscht zur Geschichte des Klimas und der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Umwelt. Er ist Mitinitiator der neuen internationalen Max-Planck-Forschungsschule zur Modellierung des Anthropozäns (IMPRS-ModA), die von der Universität Bielefeld und vier Partnern getragen wird. Mit der IMPRS-ModA will er die Dynamiken des Anthropozäns nachvollziehen und so zu nachhaltigen Lösungen für globale Herausforderungen gelangen.
Herr Mauelshagen, das Anthropozän bezeichnet das Zeitalter, in dem der Mensch zum prägenden Einflussfaktor auf die Erde geworden ist. Was hat es damit eigentlich auf sich?
Franz Mauelshagen: Das Anthropozän ist für mich ein Schlüsselbegriff, der anerkennt, dass Menschen heute durch die Summe ihrer Aktivitäten geologische Prozesse verändern und in eine Richtung treiben, deren Konsequenzen dramatisch sein können. Der menschengemachten Klimawandel ist ein Paradebeispiel. Modellrechnungen zufolge wurde die nächste Eiszeit bereits für mindestens 100.000 Jahre verschoben.

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Sie haben mit Kolleg*innen von vier Universitäten und dem Max-Planck-Institut für Geoanthropologie das Programm der neuen IMPRS-ModA entwickelt. Was ist das Ziel dieser Graduiertenschule?
Franz Mauelshagen: Die IMPRS-ModA möchte Forschende ausbilden, die die Dynamiken des Anthropozäns verstehen und modellieren können. Das Anthropozän zu modellieren bedeutet heute, diese Dynamiken in Klimamodelle einzubauen. Dazu müssen wir gesellschaftliche Aktivitäten sowohl in ihrer Eigendynamik wie in ihrem Zugriff auf Energieträger und natürliche Ressourcen besser verstehen. Dazu bringen wir Doktorand*innen aus Geowissenschaften, Geschichte, Archäologie, Lebens- und Gesellschaftswissenschaften zusammen. Wenn es gelingt, Erdsystemmodelle mit gesellschaftlicher Komponente zu entwickeln, wäre dies ein revolutionärer Fortschritt für die Wissenschaft.
Ihr Buch „Geschichte des Klimas“ beschreibt klimatische Veränderungen über Jahrtausende. Wie hilft diese historische Perspektive, die heutigen Herausforderungen zu verstehen?
Franz Mauelshagen: Um das Ausmaß und die Folgen des Klimawandels heute zu verstehen, müssen wir ihn historisch einordnen. Die Geschichte des Klimas zeigt, wie eng menschliche Gesellschaften mit klimatischen Bedingungen verflochten sind. Beispielsweise hat das relativ stabile Klima der vergangenen gut 12.000 Jahre die Ausbreitung der Landwirtschaft sehr begünstigt. Beachtung verdient der Übergang von der sogenannten Kleinen Eiszeit zum menschengemachten Klimawandel. Im Zeitraum 1550 bis 1850 steigen die Emissionen aus menschlichen Aktivitäten bereits mit einer schneller wachsenden Weltbevölkerung. Die Verbrennung fossiler Brennstoffe hatte bis 1850 nur einen geringen Anteil daran. Im 20. Jahrhundert kann man beobachten, wie Wissenschaft und Politik den menschengemachten Klimawandel zunehmend als gefährlich einstufen. Das hatte vor allem damit zu tun, dass der menschliche Einfluss während des 20. Jahrhunderts rapide zunahm.

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Wie lässt sich diese historische Perspektive in moderne Klimamodelle integrieren?
Franz Mauelshagen: Es gab bereits lange vor dem 20. Jahrhundert menschliche Auswirkungen auf das Klima, vor allem durch den Wandel der Landnutzung. Die Anfänge der Landwirtschaft liegen im Neolithikum, also viele Tausend Jahre vor der Gegenwart. Wenn wir zum Beispiel dynamische Vegetationsmodelle entwickeln wollen, können wir dies nicht, ohne die Landnutzung und ihre Veränderung zu berücksichtigen.
Welche Rolle spielt die Graduiertenschule dabei konkret?
Franz Mauelshagen: Ein wichtiger Fokus liegt auf der Entwicklung datengetriebener Modelle. Wir wollen Rückkopplungseffekte zwischen Gesellschafts- und Erdsystem besser verstehen. Solche Prozesse sind hochkomplex und erfordern interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die IMPRS-ModA bietet dafür eine Plattform, indem sie Forschende verschiedener Fachrichtungen vernetzt.

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Können Sie ein Beispiel geben, wie historische Erkenntnisse zur aktuellen Klimaforschung beitragen?
Franz Mauelshagen: Ein besonders faszinierendes Beispiel ist die Kleine Eiszeit, die im 17. Jahrhundert am stärksten ausgeprägt war. Es kam zu Abkühlungen, die über mehrere Jahrzehnte andauerten und die vor allem durch verstärkten Vulkanismus zu erklären sind. Das stellte Agrargesellschaften vor große Herausforderungen. Sie reagierten darauf, indem sie ihre Anbauflächen ausweiteten. Das verstärkte den frühen menschlichen Einfluss auf das Klima. Zwar war dieser im Vergleich zu heute gering, könnte aber im 18. Jahrhundert schon ähnlich stark gewesen sein wie natürliche Schwankungen der Sonneneinstrahlung im Rahmen der elfjährigen Sonnenfleckenzyklen. Dynamische Vegetationsmodelle, die Landnutzung und ihren Wandel berücksichtigen, werden es uns gestatten, Modellrechnungen mit historischen Informationen zu vergleichen.
Was ist der Vorteil solcher Daten?
Franz Mauelshagen: Historische Daten werden uns neue Möglichkeiten bei der Kalibrierung von Klimamodellen und ihrer Komponenten bieten. Schon heute werden Modellrechnungen mit Temperatur- und Niederschlagsrekonstruktionen verglichen. Wenn sie gut miteinander übereinstimmen, spricht das für die Zuverlässigkeit der Modelle. Diese können dann auch weiter angepasst werden. Das nennt man Kalibrierung. Diese Kalibrierung macht Vorhersagen zuverlässiger und verbessert unser Verständnis für die komplexen Wechselwirkungen im Klimasystem. Mit einem Wort: Wir nutzen historische Informationen, um Modelle zu kalibrieren.
Ist es nicht frustrierend, wenn der Klimawandel geleugnet wird, obwohl die wissenschaftliche Beweislage eindeutig ist?
Franz Mauelshagen: Ja, das ist frustrierend. Vor allem auch deshalb, weil Menschen, die den Klimawandeln leugnen, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Klimaforschung längst verloren haben. Vor 20 Jahren gab es die noch. Heute suchen Klimaleugner nicht mehr die Konfrontation mit der Klimawissenschaft, sondern konzentrieren sich auf die sozialen Medien als Spielfeld, auf dem sie ihre Falschbehauptungen verbreiten können. Dagegen hilft nur „climate literacy“ — Klimawissen für alle. Wir brauchen Bildung, die den Klimawandel auch für Menschen ohne höhere Schul- oder Hochschulbildung verständlich macht, um dem entgegenzuwirken.
Was motiviert Sie trotz dieser Herausforderungen, weiterzumachen?
Franz Mauelshagen: Lügen, sagt man, haben kurze Beine. Vielleicht haben sie manchmal längere Beine, als wir denken. Natürlich verschwindet der Klimawandel nicht dadurch, dass wir ihn uns ausreden. Es braucht aber wohl noch einiges an Geduld. Verzweiflung wäre deshalb falsch. Die Erde dreht sich um die Sonne, nicht umgekehrt. Es hat einige Zeit gebraucht, bis sich dieses moderne Weltbild durchgesetzt hat. Die Astronomen im Vatikan wussten sehr schnell, dass Galileo Galilei Recht hatte. Aber sie durften es lange Zeit nicht zugeben. Irgendwann ließ sich diese Lüge nicht mehr aufrechterhalten. Die römisch-katholische Kirche hätte sich irgendwann nur noch lächerlich gemacht. So wird es auch den Institutionen gehen, die heute den Klimawandel leugnen.