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Bergrücken der Anden bei Santiago de Chile im Sonnenaufgang

Das Anthropozän in Lateinamerika verstehen


Autor*in: Lisa Janowski

Menschliches Handeln vermindert die Artenvielfalt und beschädigt das Gleichgewicht der Ökosysteme. Plastikverschmutzung belastet die Ozeane. Intensive Ressourcennutzung führt zu Wasserknappheit und zerstörten Böden. Kurz: Menschen verändern das Erdsystem massiv. Man spricht dabei vom Anthropozän, als der Epoche, in der der Mensch zum dominierenden Einflussfaktor auf dem Planeten geworden ist. Wie diese tiefgreifenden Umweltveränderungen im Lauf der Jahrhunderte gewachsen sind, das untersuchen Professorin Dr. Eleonora Rohland und Professor Dr. Olaf Kaltmeier in Lateinamerika. Am Forschungszentrum CALAS, befassen die beiden Historiker*innen der Universität Bielefeld sich damit, wie ökologische, soziale und historische Faktoren in dieser Weltregion zusammenwirken und die globale Krise widerspiegeln.

Rohland und Kaltmeier gehören zu den Herausgebern eines mehrbändigen Handbuchs, das zeigt, wie die anthropozänen Krisen die Weltregion beeinflussen. Sechs Bände sind bislang erschienen. Sie orientieren sich an den „Planetary Boundaries“ (Planetaren Grenzen) – einem wissenschaftlichen Modell, das der schwedische Klimaforscher und Direktor des Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) Johan Rockström 2009 entworfen hat. Es zeigt, wie stabil das Erdsystem ist: Der Planet kann Belastungen wie die CO₂-Konzentration nur bis zu einer bestimmten Grenze aushalten. Jeder Band widmet sich einer dieser Grenzen und erläutert, wie sie mit der Geschichte, Gesellschaft und Umwelt Lateinamerikas verknüpft ist. 

Globale Relevanz der Erkenntnisse

Eleonora Rohland erklärt, dass das Anthropozän nicht einfach als Umweltkrise verstanden werden kann, sondern als multiple Krise : „Die Herausforderungen des Anthropozäns in Lateinamerika gehen weit über ökologische Fragen hinaus. Es handelt sich um eine komplexe Verflechtung von Klimawandel, Umweltzerstörung, sozialer Ungleichheit und kolonialen Hinterlassenschaften, die die Region in einzigartiger Weise prägen.“

Sie betont, dass die spezifischen historischen und geografischen Bedingungen Lateinamerikas die Art und Weise beeinflussen, wie sich die Krisen des Anthropozäns entwickeln. So ist die Region nicht nur eine der artenreichsten, sondern auch eine, die stark von äußeren Wirtschaftsmodellen wie dem Rohstoffabbau und der intensiven Landwirtschaft geprägt ist. Diese führen oft zu unumkehrbaren ökologischen Schäden, die stark auf die sozialen Strukturen der Region einwirken.

Was ist das Anthropozän?

Der Begriff Anthropozän wurde im Jahr 2000 von Nobelpreisträger Paul Crutzen und Biologe Eugene F. Stoermer geprägt und beschreibt eine geologische Epoche, in der der Mensch so massiv in die Umwelt eingegriffen hat, dass diese Veränderungen dauerhaft in den geologischen Schichten der Erde sichtbar sein werden. Weitere Beispiele dafür sind das Abschmelzen der Gletscher, die Versauerung der Ozeane und die großflächige Verschmutzung von Böden durch Chemikalien.

Obwohl das Anthropozän im März 2024 nicht offiziell als Epoche anerkannt wurde, wird es weiterhin intensiv diskutiert. Kritiker wie die Internationale Union der Geologischen Wissenschaften (IUGS) argumentieren, dass eine so kurze Zeitspanne nicht mit geologischen Zeitmaßstäben vergleichbar sei.

Historische Betrachtung der Ursachen

Eleonora Rohland und Olaf Kaltmeier sehen die Wurzeln vieler ökologischer und sozialer Probleme Lateinamerikas in der Kolonialzeit. Als Spanier und Portugiesen im 15. und 16. Jahrhundert ankamen, begannen sie, die natürlichen Ressourcen im großen Stil auszubeuten. Sie unterdrückten die einheimischen Völker und führten europäische Wirtschaftsmodelle ein, die den Abbau und Export von Rohstoffen wie Silber, Gold und Zucker vorantrieben.

Ab dem 19. Jahrhundert beschleunigten sich der industrielle Fortschritt und die Urbanisierung in der Region, was zu verstärkten Eingriffen in die Umwelt führte. „Die Expansion der Landwirtschaft und des Bergbaus hat nicht nur ökologische Zerstörung hinterlassen, sondern auch soziale Ungerechtigkeiten vertieft “, so Olaf Kaltmeier, Direktor des CALAS. Diese Dynamiken legten den Grundstein für viele der heutigen Konflikte um Landnutzung und Ressourcen.

Regionale Unterschiede

In ihrer Forschung legen die beiden Historiker*innen großen Wert darauf, die geografischen Unterschiede innerhalb Lateinamerikas zu berücksichtigen. So untersuchen sie nicht die einzelnen Staaten, sondern richten ihren Blick auf große geografische Zonen.

Ein weiterer zentraler Aspekt in der Forschungsarbeit ist die enge Verbindung zwischen Umweltkrisen und sozialer Ungleichheit. Dabei stellten die Forschenden fest, dass in Lateinamerika die am stärksten betroffenen Gruppen oft diejenigen sind, die den Klimawandel am wenigsten mitverursacht haben. 

Bild der Person: Eleonora Rohland
Indigene Gemeinschaften, Kleinbauern und arme städtische Bevölkerungen tragen die größten Lasten der ökologischen Krise, obwohl sie selbst am wenigsten Ressourcen verbrauchen und zur Umweltzerstörung beitragen
Prof’in Dr. Eleonora Rohland

Lehren aus Lateinamerika ziehen

Die Forschung der Wissenschaftler*innen rund um Rohland und Kaltmeier verdeutlicht, dass die ökologischen und sozialen Herausforderungen des Anthropozäns nur durch einen globalen Ansatz bewältigt werden können, der lokale Unterschiede anerkennt und historische Ungleichheiten in den Blick nimmt. 

„Lateinamerika macht sichtbar, wie sich das Anthropozän nicht nur als Umweltkrise, sondern auch als soziale Krise zeigt“, sagt Olaf Kaltmeier und Eleonora Rohland führt aus: „In Mexiko ist die Gesundheit die Menschen in ärmeren Gemeinden durch industrielle Verschmutzung gefährdet. In Brasilien sind es illegale Abholzung und Landraub durch Großkonzerne, die zu massiven sozialen Unruhen und Vertreibungen indigener Völker führen. In Peru ist die globale Erwärmung direkt spürbar – durch das Abschmelzen der Gletscher und die damit bedrohte Wasserversorgung. Wenn wir Lösungen finden wollen, müssen wir diese Zusammenhänge verstehen und berücksichtigen“, so Rohland. „Die Region ist ein eindringliches Beispiel für die globalen Herausforderungen des Anthropozäns.“

Ein Buchprojekt des CALAS

Die Handbuchreihe „The Anthropocene as Multiple Crisis: Perspectives from Latin America“ („Das Anthropozän als multiple Krise: Perspektiven aus Lateinamerika“) entstand aus dem CALAS und diskutiert anthropozäne sozio-ökologische Krisen aus einer lateinamerikanischen Perspektive, ohne globale Dimensionen zu vernachlässigen. Erschienen sind die Bücher bei Bielefeld University Press. 

Die Abschlusstagung zu dem Handbuchprojekt findet vom 17. bis 18. Februar am Zentrum für interdisziplinäre Forschung statt. Das CALAS wird als Maria Sibylla Merian Center vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. 

Das Center widmet sich sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschung in Lateinamerika – mit Fokus auf Krisen und ihre Bewältigung. Der Hauptsitz liegt in Guadalajara, Mexiko, mit Büros in Ecuador, Costa Rica und Argentinien. Die deutschen Universitäten Bielefeld, Kassel, Hannover und Jena sind für die Projektleitung verantwortlich. Die Universität Bielefeld hat die Sprecherfunktion inne, vertreten durch den Direktor Olaf Kaltmeier und Eleonora Rohland. Bielefeld gehört damit zu den Teilprojektleiter*innen.