Skip to main content

Wie das Holocaust-Narrativ vereinnahmt und verdreht wird


Autor*in: Universität Bielefeld

Der Schweizer Autor Alexander Estis analysiert, wie das Holocaust-Gedenken für unterschiedliche politische Zwecke genutzt wird. Diesen Missbrauch erläuterte er in seinem Vortrag im Juli im Kolloquium des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 „Praktiken des Vergleichens“ an der Universität Bielefeld. Titel des Vortrags: „Man wird doch wohl vergleichen dürfen! Zur strategischen Aneignung des Holocaust im medialen Diskurs“. Die Aufzeichnung des Vortrags ist jetzt online.

Anhand konkreter Beispiele aus Tierschutz, Abtreibungsdebatte und Corona-Protesten zeichnet Estis nach, wie der historische Genozid an den Juden vereinnahmt und umgedeutet wird. So instrumentalisierten laut Estis Tierschutzorganisationen den Holocaust, um die Massentierhaltung anzuprangern. Abtreibungsgegner*innen errichteten gar eigene „Gedenkstätten“ für abgetriebene Föten und stellten diese dem Nationalsozialismus gleich.


In seinem Vortrag erläuterte Estis die Funktionsweise von „schmutzigen Vergleichen“ und wie diese die Vereinnahmung des Holocaust-Narrativs ermöglichen.

Dieser Vortrag besteht letztlich aus Vorarbeiten. Erwarten Sie bitte nicht allzu viel. Das ist eine Sammlung, die ich Ihnen auch vorführen möchte, die aber vielleicht als Sammlung auch eindrücklich ist. Wie Max schon gesagt hat, ich bin der Universität abtrünnig geworden. Deshalb erhoffen Sie sich bitte auch keinen richtigen wissenschaftlichen Vortrag. Ich bin aber sehr gespannt, wenn wir danach ins Gespräch kommen, zumal ich sozusagen mit den Praktiken des Vergleichens als wissenschaftlicher Disziplin bislang gar nicht viel zu tun hatte.
Und ich hoffe, Sie haben einigermaßen starke Nerven mitgebracht, denn ich werde Ihnen hier doch Sachen zeigen, die zum Teil nicht ganz ohne sind. Falls es irgendwie zu viel wird, geben Sie Bescheid. Nehmen wir an, jemand sagt zu Ihnen, „Du bist wie Sokrates.“ Sie fühlen sich geschmeichelt, fragen zur Sicherheit aber doch noch einmal nach, wie der Vergleich gemeint ist. Woraufhin Sie zu hören bekommen: „Du hast einen Bart.“ Das ist ein Schlag, den Sie nicht erwartet hätten. Sie hätten eher damit gerechnet, dass es um die tiefe Weisheit geht. Aber immerhin, Sokrates hatte ja einen Bart, insofern ist der Vergleich noch einigermaßen sinnvoll. Wenn Sie nun aber gar keinen Bart hätten, dann würde die Antwort vielleicht lauten: „Nun, dein Name beginnt auch mit S.“ Oder vielleicht noch besser: „Nun, du existierst doch auch.“
Ist das eigentlich ein legitimer und sinnvoller Vergleich? Das tertium comparationis umfasst hier offenbar nicht das besondere Singuläre des Sokrates, nicht die differentia specifica, um mit dessen Schüler zu sprechen. Man hätte jeden anderen oder am besten die Menge aller anderen existierenden Entitäten für den Vergleich heranziehen können, nicht diejenige mit den ganz konkreten Qualitäten. Das herangezogene Komparatum war also zu speziell, weshalb der Vergleich diffus gerät. Dennoch evoziert dieser Vergleich, auch wenn er präzisiert werden sollte, das spezifisch Sokratische, die Weisheit oder auch den Bart von mir aus. Ich möchte diese Art von Vergleich deshalb schmutzig nennen, im Sinne von verwaschen, weil er prima facie gerade nicht das tertium fokussiert, sondern gewissermaßen eine referenzielle Diffusität erzeugt, bis hin zur Extremform, bei der ein Scheinvergleich in Wirklichkeit die Entkräftung des Komparatums bewirken soll.
Das ist jetzt eigentlich auch schon alles an Theorie, das ich mitbringe. Und auch das ist, wie Sie wahrscheinlich gemerkt haben, sehr dilettantische Theorie. Aber darüber reden wir bestimmt. Mein Gedanke ist nun, dass der Holocaustvergleich, zumal im medialen Diskurs, in der Regel solch ein schmutziger Vergleich ist, wenn auch je unterschiedlich konturiert und profiliert. Und dass diese schmutzige Diffusität überdies strategischen Zwecken dient. Jetzt komme ich, bevor ich dann noch mal an ein paar Fallstudien gehe und dann tiefer einsteige, möchte ich einfach einige Beispiele demonstrieren.
2012 zog ein Verfahren bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dabei ging es um eine schon 2004 entworfene Kampagne der Tierschutzorganisation PETA. Der Slogan dieser Kampagne lautete „Der Holocaust auf Ihrem Teller“. So sah ein Bild aus mit einem Zitat, das sich auf das Dritte Reich bezieht. Das ist aber noch relativ milde. Hier sieht man tatsächlich dieses Zitat „Der Holocaust auf Ihrem Teller“. Was ich weggeschnitten habe, ist die Abbildung eines KZ-Häftlings, eines abgemagerten KZ-Häftlings. Ich wollte das nicht gern präsentieren. Es ist tatsächlich auch so, dass sich auf einer dieser Abbildung ein Holocaustüberlebender dann erkannt hat. Unter anderem deshalb wurde auch dagegen geklagt. Es sollte offensichtlich sogar noch drastischere Bilder geben. Man sieht also, hier wird ein abgemagertes Tier und die Massentierhaltung und die Tierschlachtung direkt parallelisiert mit dem Holocaust. Diese Werbekampagne wurde also in Deutschland verboten. Aber immerhin bei MTV wurde trotzdem ein Werbespot abgespielt und in diesem Werbespot hieß es: „Sie holten uns in der Dunkelheit und trieben uns mit Schlägen in die Waggons“. Bezogen auf die Tiere, aber ich denke, das Vergleichsmoment ist klar.
Warum muss es in so einer Angelegenheit eigentlich der Holocaust sein? Ich werde immer wieder natürlich auf diese Frage zurückkehren. Aber das schon mal kurz vorweg: Ich habe dazu einen sehr aufschlussreichen Artikel, der eigentlich mehr um die rechtliche Situation kreist, gelesen und darin sagt der Journalist Martin Rath, dass es eine traditionelle Obsession von Tierschützern mit dem Judentum und den Juden gebe. Ich zitiere: „Die Obsession von Tierschützern ging so weit, dass prominente Vertreter ihrer Bewegung noch den nationalsozialistischen Staat beschuldigten, zu zögerlich gegen Juden vorzugehen.“ Einer von diesen Tierschutz-Funktionären, behauptete noch im Jahr 1951, Zitat: „Für Zehntausende deutsche Menschen wird es keine Lösung der Judenfrage geben, solange die Juden auf ihrer grausamen Schlachtmethode beharren.“ Rath spricht daher von einem historisch sehr festgefügten Amalgam von Tierschutz und antisemitischer, heute vielfach antimuslimischer Menschenfeindlichkeit. Also es scheint da eine gewisse Verbindung zu geben, die auch in Form langer Traditionslinien nachzuzeichnen ist.
Ich gehe weiter zu einem nächsten Beispiel vom „Hühner-Holocaust“, wie es oft auch in diesem Kontext hieß, zum sogenannten „Babycaust“. Und ich zitiere noch einen Slogan, eine kranke grüne Forderung „Küken schreddern verbieten, Kinder schreddern, also Abtreibung, legalisieren“. So heißt es auf der Website „babycaust.de“. Man sieht also, wie hier gewissermaßen eine Opferkonkurrenz aufgemacht wird, ein Wettbewerb der Holocaustvergleiche, wenn man so will. Das passt sehr gut zu einem Zitat des israelischen Journalisten Anshel Pfeffer, der in diesem Kontext gesagt hat: „Everyone having their own preferred Holocaust“.
Nun, diese Abtreibungs-/Holocaust-Vergleiche sind relativ alt. Schon der Historiker Ernst Nolte, sozusagen derjenige, der den Anfangsstrich des Schlussstrichs gezogen hat und der, wie man heute sagen muss, den ersten Historikerstreit damals provozierte, sah die Gefahr der Abtreibung verschleiert durch die Fixierung auf die deutsche Schuld. Insofern, das, was wir mit diesen Abtreibungsparolen und Holocaustvergleichen erleben, ist nicht ganz neu. Aber in den letzten Jahren war das besonders präsent. Unter anderem auch deshalb, weil manche Gerichtsverfahren erst vor einigen Jahren dazu stattfanden. 2018 war im Schaufenster einer Kölner Buchhandlung eine Fotocollage zu sehen. Ein Kinderfriedhof, darüber ein, dem KZ Auschwitz nachempfundener, Torbogen mit dem Schriftzug „Abtreiben macht frei“. Das gleiche Bild legte die deutsche Zentrumspartei ihren Einladungen bei zu einer Trauerfeier in der „Mahn- und Gedenkstätte für die im Mutterleib ermordeten Kinder Deutschlands.“ Ich denke, Sie hören, worauf das anspielt. Und diese Einladung tauchte im Fernsehen in den Händen eines AfD Abgeordneten auf. Sie sehen das im Hintergrund. Die erwähnte Mahn- und Gedenkstätte ist, wie auf der Website „Kindermord.org“ nachzulesen ist, nichts anderes als der Kinderfriedhof selbst. Zur Gedenkstätte wurde er von den Abtreibungsgegnern lediglich proklamiert.
Unter dem Titel „Abtreiben macht frei!“ erschienen auf der gleichen Website 2022 ein Artikel, der die nationalsozialistische mit der heutigen Gesetzgebung und Völkermord mit Abtreibung engführt. Betrieben wird diese Website von einem Karl Noswitz zu dem ich noch zurückkommen werde. Zu seinen Projekten gehört auch die Wanderausstellung „Fetus Christus“, unter anderem in Dachau und Auschwitz sollte diese Wanderausstellung haltmachen. Man sieht, dass es eine interessante Städteliste: Berlin, Dortmund, Nürnberg, Rotterdam, Rom, aber eben auch Dachau und Auschwitz. Eine tatsächliche Gedenkstätte für die abgetriebenen Föten gibt es, ob Sie es glauben oder nicht, auch. Gegründet vom Abtreibungsgegner Franz Graf aus dem oberpfälzischen Pösing, der daselbst eine Kapelle „Zu Ehren abgetriebener Kinder“ errichtet hat. Auf Gedenksteinen und Tafeln prangen dort Aufschriften wie „Der größte Völkermord in der Geschichte der Menschheit“, „Der Holocaust an ungeborenen Kindern“ oder „Auschwitz ist heute in unseren Krankenhäusern und Abtreibungskliniken sowie in gynäkologischen Praxen“.
Hier noch eine Gedenktafel, die dort steht. In einer Rede zum 10-jährigen Jubiläum der Kapelle ging Graf noch weiter und fragte „Was ist Auschwitz gegen diesen Massenmord an Kindern?“ Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Ich komme aber noch zu dieser Überbietung gleich zurück. Noch drastischer ist die von Klaus Günter Annen betriebene Website, die ich schon erwähnt habe, „babycaust.de“. Ich zeig Ihnen mal ein paar Ausschnitte. Hier ist auch ein Gedicht, wie Sie sehen. Unten wieder eine Abbildung der Eingangspforte des KZs und hier finden wir auch ein regelrechtes Argumentarium zur Apologetik des Holocaustvergleichs. Das ist sehr spannend, weil hier sozusagen schon eine Art Metapoetik stattfindet zu diesem Thema der Holocaustvergleiche, weil natürlich auch verschiedenste Gerichtsprozesse angestrengt wurden und verschiedenste Vorwürfe aufkamen und sich, so der Betreiber der Website, dann zu einer Legitimation und Rechtfertigung aufgerufen, aufgefordert fühlte. „Warum soll bei diesen Verbrechen“, heißt es hier, „gegen die Menschenrechte auf Leben für alle ein Vergleich zwischen Holocaust – Babycaust nicht angebracht sein, um der Bevölkerung die Augen zu öffnen?“ Das ist interessant. Da müssen wir uns fragen: Ist es nötig, Abtreibung mit dem Holocaust zu vergleichen, um aufzuklären über Abtreibung? Ich denke, eine Antwort erübrigt sich, zumindest auf diesem Niveau.
Hier sind noch weitere interessante Ausführungen zum Thema Vergleiche. Wie funktioniert der Vergleich? „Ein Vergleich beinhaltet geradezu“, warum auch immer, „zwei Dinge. Unser Vergleich bezieht sich nicht auf die Täter, sondern auf das Ausmaß der ermordeten Menschen. Oder anders gesagt die Beweggründe für die Morde mögen unterschiedlich sein, jedoch sind wir über jede Mordtat gleichermaßen erschrocken.“ Ich denke, vielleicht können Sie jetzt erahnen, warum ich das Beispiel mit Sokrates und dem Bart und der Existenz von Sokrates gebracht habe. Ähnlich diffus geht es hier zu. Der Vergleich wird so skaliert, dass er sich am Ende auf ein tertium bezieht, das dermaßen allgemein ist, dass man sich fragt: Warum? Inwiefern legitimiert das einen Vergleich mit dem Holocaust? Das sind natürlich aus meiner Sicht rhetorische Finten.
Vielfach geht diese Vergleichswut zwischen Abtreibung und Holocaust, wie gesagt, bis hin zum Überbietungsvergleich. Die beste Repräsentation dieses Überbietungsvergleichs habe ich hier abgebildet: „Den Babycaust mit dem Holocaust gleichzusetzen würde bedeuten die heutigen Abtreibungsmorde zu relativieren.“ Das ist sozusagen die Retourkutsche zum Vorwurf der Holocaustrelativierung. Tatsächlich muss man sich fragen, also das ist natürlich ein Rechtsterminus, die Holocaustrelativierung, aber man muss sich tatsächlich fragen, ob das, wenn wir jetzt interpretierend und hermeneutisch vorgehen, ob das der richtige Begriff wäre für das, was hier stattfindet. Aber damit möchte ich mich jetzt nicht länger auseinander setzen.
Jedenfalls ist klar, dass hier reagiert wird auf diesen Vorwurf der Holocaustverharmlosung und -relativierung. Und es heißt, „Nein, es ist genau andersherum, wenn man die Abtreibung mit dem Holocaust vergleicht, dann relativiert man die Abtreibung, weil das viel, viel schlimmer ist.“ Ich lese noch zwei solche Relativierungen, solche Überbietungspassagen vor: „Mancher sieht in dem Vergleich eine Verharmlosung der Kinderabtreibung, denn bei aller Grausamkeit des Holocausts, nicht einmal die Nationalsozialisten haben ihre eigenen Kinder ermordet“. Was auch nicht ganz wahr ist. Dieses Zitat stammt vom erwähnten Karl Noswitz. Und ein Pastor in einer Bistumszeitung schreibt: „Nazis haben sich an unschuldigen Menschen ausgelassen, die weitgehend erwachsen waren und sich gegen das ihnen geschehene Unrecht empören konnten. Bei der Abtreibung zerstückelt, zerschneidet und erwürgt man ungeborene Kinder, die kein einziges Wort für sich sprechen können.“ Also auch da, „Abtreibung ist schlimmer als der Holocaust.“
Der erwähnte Karl Noswitz stellt auf seiner Website „Privat-Depesche.de“, die Abtreibung überdies in eine Kontinuität mit Hitlers Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Da sieht man, dass es nicht sehr kohärent ist in sich. Tatsächlich könnte man genauso den holocaustvergleichenden Abtreibungsgegnern eine solche Kontinuität attestieren, denn sie beziehen sich in ihrem Kampf gegen Abtreibung regelmäßig auf Paragraf 219 A, der 1933 nach der Machtergreifung eingeführt wurde, unter anderem auch mit dem Ziel, genügend Soldatenzufuhr für die Wehrmacht sicherzustellen.
Wichtiger ist aber, klassischerweise stecken, laut Verschwörungstheorien, ausgerechnet Juden hinter der Zunahme von Abtreibungen. Warum? Weil Juden, so die üblichen Verschwörungstheorien, das Ziel verfolgen, die jeweilige nichtjüdische Bevölkerung auszurotten. Na, vielleicht kennen Sie diese Verschwörungstheorien vom großen Bevölkerungsaustausch. Das ist etwas, was auch sehr stark zunimmt. Da ist sehr interessant zu beobachten, die ist einerseits antimuslimisch, weil es sich natürlich meistens gegen die Zunahme der muslimischen Bevölkerung richtet, aber wenn man ein bisschen weiter schaut, wird man ganz oft lesen: „Wer steckt hinter dieser Masseneinwanderung? Das sind die Juden, die steuern die Zuwanderung von Muslimen nach Europa.“ Diesen Grad der Absurdität nachzuvollziehen, ist für mein Gehirn wirklich sehr schwierig, aber es ist tatsächlich so. Und auch das sind alles ganz, ganz alte Topoi der antisemitischen Hetze und Propaganda. Ich zitiere wirklich nur ganz exemplarisch hier aus dem Stürmer. Dort heißt es, ja 1944: „Jüdische Ärzte waren es ja, die an der Abtreibung Unsummen Geld verdienen.“ Da sehen Sie also, dass es auch hier klare Kontinuitäten gibt.
Und jetzt möchte ich etwas ausführlicher auf den Holocaustvergleich in der Coronaskeptiker-, Impfgegner- und Querdenkerszene eingehen. Ich zitiere zunächst aus dem RIAS Jahresbericht „Antisemitische Vorfälle in Deutschland für das Jahr 2022“: „Da waren etwa Gleichsetzungen staatlicher Maßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie mit der antisemitischen Gesetzgebung während des Nationalsozialismus. In Zwickau relativierte eine Rednerin bei mehreren sogenannten Anti-Corona-Spaziergängen die Shoah, indem sie die Situation von nicht gegen Corona geimpften Menschen mit der, verfolgter Jüdinnen und Juden in NS-Deutschland verglich.“ So konnte das zum Beispiel aussehen. Auch hier wieder die gleiche Inschrift, die instrumentalisiert und umgeschrieben wird. So konnte es auch aussehen, „Impfen gleich Zyclon B“, also das Gas, das zur Vergasung in den Todeslagern eingesetzt wurde. Wenn Sie sich dieses Bild merken, werden Sie an einem späteren Punkt vielleicht ein Aha-Erlebnis haben, wo ich etwas Ähnliches zeige, das aber ein bisschen noch genauer die Hintergründe verstehen lässt. Und das hier ist auch spannend. „Anne Frank wäre bei uns.“ Also Sie haben bestimmt diese Vergleiche auch mit Sophie Scholl und so weiter mitbekommen, das gehört alles ungefähr in die gleiche Tendenz.
Auch spannend: Ärzte, die Impfungen verabreichten, wurden auf einer Dresdner Demo, die auch an der neuen Synagoge in Dresden vorbeizog, als „Mengeles Enkel“ bezeichnet. Außerdem gab es Aufkleber, die Virologe Christian Drosten neben NS-Arzt Josef Mengele zeigten. Man könnte das eigentlich endlos fortführen, aber ich konzentriere mich jetzt auf einen für mich besonders aufschlussreichen Vergleich, und zwar den Vergleich mittels sogenannten Judensternen. So sah der Judenstern in der Reinterpretation durch Impfskeptiker aus. Man muss sagen, auch das hat zahlreiche Vorläufer. Es gab solche Judenstern in allen möglichen Kontexten, es gab sie sogar für Dieselfahrer, die sich als Opfer einer Diktatur erlebten. Es gab ihn für, zum Beispiel, auch für AfD Leute, die haben sich auch so was angehängt. Also jeder, der nicht zu faul war.
Nun könnte man anzweifeln, dass es sich beim Selbstvergleich mit den Opfern des NS-Regimes mittels Judenstern, überhaupt um einen echten Vergleich handelt. Denn er ist im eingangs formulierten Sinne insofern besonders schmutzig, als er seine eigene Umkehrung evoziert. Das klingt jetzt etwas postmodern, ist aber ganz konkret gemeint. Der Vergleich ist nicht einfach ein ungeschickt hinkender Vergleich, sondern ein auf den Kopf Gestellter. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Umkehrvergleich, wie er von Ideologen und Demagogen jeglicher Couleur regelmäßig bemüht wird und mit dem diese keinesfalls eine echte Analogie zu einer Opfergruppe herstellen wollen, geschweige denn eine Identifizierung. Vielleicht haben Sie ja auch das mitverfolgt und mitbekommen. Da gab es zum Beispiel eine prominente Kolumne von Harald Martenstein, die für Aufregung gesorgt hat, die sozusagen der Tagesspiegel, dann wieder zurückgezogen hat. Dann hat Martenstein sie auf seiner eigenen Seite neu publiziert. Dadurch wurde sie erst recht breit rezipiert. Und in dieser Kolumne drückte er letztlich die Idee aus, „Ja, das ist ja gar nicht antisemitisch mit dem Judenstern, sondern sie wollen sich einfach nur, also es ist geschmacklos, aber nicht antisemitisch, sie wollen sich nur als Opfer gerieren.“ Das kann im Einzelfall vielleicht sogar sein, das kann man ja, also das müsste man irgendwie psychologisch eruieren, und das können wir nicht. Aber wenn man sich den Gesamtkontext anschaut und schaut, woher diese Vergleiche genau kommen und wie sie verwendet und von wem sie verwendet werden, wird glaube ich ein völlig anderes Bild dabei konturiert werden. Und das werde ich jetzt versuchen.
Solche Vergleiche bezwecken damit einzig und allein die Aneignung und Umdeutung eines Narrativs. Eine, wie man sagen könnte Show Appropriation, also eine Appropriation der Shoah. Die Sternträger inszenieren sich als die neuen, eigentlichen Juden, also die wahren Opfer von heute, während die alten Juden in ihren Phantasmen umgekehrt als Strippenzieher der Krise und deren kapitalistische Profiteure fungieren. Das ist sozusagen der Teil, der ein bisschen unter dem Wasserspiegel bleibt und oft unsichtbar wird und von naiven oder bewusst verharmlosenden Leuten, wie auch im Falle Martensteins, dann entweder bewusst oder unabsichtlich ignoriert wird. Aber man braucht nur ganz wenig zu recherchieren, eigentlich, um diesen größeren Teil des Eisbergs eigentlich zu finden. Ich werde auch gleich ein paar Anhaltspunkte dafür geben.
Dass hierin die wesentliche Intention der Judenstern-Aneignung liegt, belegen einschlägige Kommentare und Posts in einer derartigen Drastik, wie sie keinerlei Raum für Zweifel lassen dürfte. „Gelber Impfpass für alle Goyim, also für alle Nichtjuden. Was hier passiert ist, Was hier passiert ist jüdische Rache.“ Es ist kein Komma da. Deshalb muss man aufpassen mit der Syntax. So heißt es in einem verschwörungstheoretischen Telegrammkanal. Und Attila Hildmann, der wahrscheinlich auch allen bekannt ist, stimmt ein. „Die Juden feiern ihren Endsieg gegen die Goyim, die sie mit Giftspritzen ermorden.“ Jetzt sehen Sie also natürlich auch gerade hier durch dieses „Gelber Stern für Juden, gelber Impfpass für alle Goyim“. Ja, da sehen Sie sehr gut, was dieser Judenstern in der Reinterpretation der Impfskeptiker genau genommen zu bedeuten hat. Oder zumindest, womit er direkt assoziiert ist. Noch ein Zitat aus dem Telegrammkanal: „Patriotische Europäer gegen die Zionisierung des Abendlandes. Früher vergiftete der Jude den Brunnen und heute gibt es Impfungen. Der Jude war und ist ein Giftmischer.“ Ja, dieser Brunnenvergiftungs-Topos, den kennen Sie vielleicht, ist uralt, und da müsste man schon in die Mediävistik zurückkehren, um über den zu sprechen.
Auf einer Corona-Demo in Dresden im Jahr 2022 trug eine Teilnehmerin ein antisemitisches Schild, auf dem „Stop Corona Gentherapie.“ Also „Stop!“, wahrscheinlich, „Corona Gentherapie und die Macht der Eliten Rothschilds, Rockefellers, Soros und Konsorten“, zu lesen war. Auch da sieht man die, wie ich es vorhin formuliert habe, kapitalistischen Profiteure der Pandemie, die natürlich allesamt Juden sind. Ein kleiner Sprung: Zu Höchstleistungen in der Vereinnahmung des Judensterns bringt es derzeit eine ganz andere Gruppe, die Entlastung und Rechtfertigung dringend zu benötigen glaubt. Zitat: „So wie man die Juden im 20. Jahrhundert jagte, so jagt man die Russen im 21. Jahrhundert. Die Russen sind die neuen Juden.“ So schreibt ein Putin-naher Politologe und Dumaabgeordneter, der in diversen Sanktionslisten figuriert. Sanktionen und Reisebeschränkungen nehmen regimetreue Russen immer wieder zum Anlass, um sich als Opfer einer globalen Russophobie darzustellen, einer Russophobie, die schon morgen zu einem Holocaust führen könnte.
Auch da lassen sich unendlich viele Zitate bringen. Ich gehe nur auf einen besonders einprägsames und eindrückliches Beispiel ein: Einer der beliebtesten Musiker Russlands, Sergej Schnurow, der 100 Millionenfach angeklickte Clips produziert hat, verwendet die gleiche Denkfigur. Eines seiner neueren Musikvideos zeigt zwei Tänzer in traditionellem russischem Gewand mit aufgenähtem Davidstern, die zwar nicht gelb, sondern blau sind, aber in ihrer Funktion klar als stigmatisierende Judensterne erkennbar werden. So sieht das aus. Traditionelle russische Gewänder, wie Sie sehen, und darauf ein blauer Judenstern. Aber so wie er platziert ist. Und wenn man den Text bedenkt, wird klar, dass eigentlich die Gelben gemeint sind. Im Liedtext fragt sich der Sänger nämlich, ob man den Russen im Westen nicht bald Erkennungszeichen an die Kleidung hängen werde. Und in diesem Augenblick weist einer der Tänzer auf seinen Stern. „Der Russe“, singt Schnurow, „ist jetzt wie der Jude in Berlin des Jahres 1940.“ Eine Sängerin stimmt mit einem Refrain ein: „Die Mistkerle beginnen Stück für Stück mit dem Genozid.“ Am Ende des Songs fordert Schnurow: „Europäer sag es, wie es ist, schweige nicht. Der Russe ist für euch der neue Sau-Jude. Am liebsten würdet ihr uns doch alle im Ofen verbrennen.“
Besonders charakteristisch ist daneben der Artikel eines frankophonen prorussischen Bloggers. „Die Russen von heute“, heißt es dort, „sind die Juden von gestern.“ Das ist erst mal die Überschrift. Im Text erfährt man von einer weltweit orchestrierten Unterdrückung russischer Kultur und russischer Menschen, deren letztes Ziel die Vernichtung ihrer Nation sei. Als Illustration dient unter anderem eine Collage. Was Sie jetzt sehen werden, ist so abstrus, dass ich das kaum in Worte zu fassen vermag. Ja, also letztlich sind alle Nazis und die Russen sind eben die neuen Juden und der Rote Platz im Hintergrund wird offensichtlich zerbombt. Also interessant ist auch Macron, als Hitler hier mit einer Armbinde, auf der das Parteikürzel, LREM steht da, angeordnet ist als Hakenkreuz.
Anhand dieser Darstellung lässt sich ablesen, wie innerhalb solcher Denkmuster Selbst- und Feindbild qua Judenstern verschränkt sind. Wie gesagt, wenn sich jemand stilisiert als neujüdisches Opfer, ob der westlichen Welt, ob der Impfvorschriften, ob des Dieselverbots, was auch immer, wenn sich jemand so stilisiert, suggeriert er zwangsläufig, dass dieser Feind gleich einem Faschisten und Nationalsozialisten nichts anderes als das ultimativ Böse sein kann, das ultimative Gegengewalt erfordert und auch legitimiert. Diese gewalt- und kriegslegitimierende Funktion ist solchen schmutzigen Holocaustvergleichen immer eingeschrieben oder zumindest fast immer. Den Feind als Nazi zu brandmarken bedeutet, ihn zu dehumanisieren, weil ein solcher Unmensch seine Menschlichkeit gewissermaßen verspielt hätte. Genau darin gründet das narrative Gerüst der russischen Kriegspropaganda, die seit Jahren beharrlich eine Entnazifizierung der Ukraine fordert. Die Nachrichtenagentur RIA beruft sich immer wieder auf den in Anführungszeichen „Genozid an der Bevölkerung des Donbass“, wie ihn Putin kurz vor Kriegsbeginn behauptet hat. Margarita Simonjan, die Leiterin des Propagandasenders RT, ehemals Russia Today, warnt ständig davor, dass Russen in der Ukraine in Konzentrationslager deportiert und mit Gas vergiftet werden sollen. Fingierte Kriegsverbrechen und Massenmorde heutiger Ukronazisten und Ukrofaschisten an den Russen, werden allenthalben historischen Schilderungen nationalsozialistischer Untaten gegenübergestellt. Das folgt dem gleichen Verkehrungsprinzip wie der Einsatz von Judensternen zur Selbststigmatisierung. Und so findet sie, im Fall der russischen Propaganda, ihre folgerichtige Krönung darin, dass der jüdische Präsident der Ukraine, dessen Familie ja nur zum Teil den Holocaust überlebte, als oberster Ukronarzist auftritt. Dem Propagandgläubigen erscheint das wahrscheinlich nicht weniger plausibel als Leute, die Impfungen verabreichen und als Mengele-Nachfolger, Mengele-Enkel zum Beispiel, bezeichnet werden können.
Der putinistische Mythos der Ukrofaschisten wurde innerhalb der deutschen Querdenkerszene ohne Weiteres anschlussfähig. So postete ein inzwischen verurteilter Nutzer, also nicht deshalb, sondern wegen anderer Dinge verurteilt, auf Facebook einen Ungeimpft-Judenstern mit der Unterschrift „Die Jagd nach Menschen kann wieder beginnen.“ Wobei doch, ich glaube, dafür hatte er auch, weiß ich jetzt nicht mehr genau, aber ich glaube, er hat dafür auch ein Bußgeld bekommen. Später folgte eine Abbildung, die Selenski neben Hitler stellt und Ähnlichkeit suggeriert. Darunter der Kommentar: „Der rechts hatte wenigstens einen Anzug an und hat nicht gebettelt.“ Solche Gegenüberstellungen und Vergleiche von Selenski und Hitler sind in erdrückender Menge im russischsprachigen Segment des Internets zu finden, nicht selten sogar angereichert um die Unterstellung, Selenski und Hitler seien entfernt miteinander verwandt, natürlich über Hitlers vermeintliche jüdische Vorfahren. Das ist auch ein Topos, der Ihnen vielleicht schon mal begegnet ist. Hitler war natürlich auch Jude. Ein gefaktes Buchcover zeigt Selenskis Porträt und den Titel „Mein Kampf“. Und bisweilen heißt es, Selenski sei sogar noch schlimmer als Hitler.
All diese Kontinuitäten, deren Nachzeichnung man im Übrigen endlos fortführen könnte, zeigen nur allzu deutlich, in welch hochgefährliches Geflecht extremistischer Ideologeme, die Verwendung des Judensterns und ähnlich instrumentalisierte Holocaustvergleiche eingebunden sind. Auch wenn sie sich für den oberflächlichen Blick als eine punktuelle, wenig signifikante, diffuse historische Anleihe tarnen mag, der radikal symbolische Umkehrvergleich mittels Judenstern ist, wie aus den geschilderten Fällen hervorgeht, eine schmutzige Metapher, er voziert nicht nur das eigentliche Vergleichsmoment, also das Opfertum, sondern ruft zugleich das gesamte antisemitisch verschwörungstheoretische Weltbild auf. Und damit nicht zuletzt das uralte archetypische Bild vom Juden als hinterhältigen Intriganten und Brunnenvergifter, der für sämtliche Seuchen von Cholera bis Covid, für sämtliche Kriege und Krisen verantwortlich sein soll.
Zum Thema Krieg: Aus Protest gegen die Resolution der UN zur Lage in Nahost und das Schweigen über die Gräueltaten der Hamas, hat sich auch Israels UN-Botschafter Gilad Erdan vor dem Weltsicherheitsrat einen gelben Judenstern ans Revers geheftet. Auch wenn er als Nachfahre von Holocaustüberlebenden und Repräsentant des jüdischen Staates eine gewisse Berechtigung dazu fühlen mochte, wurde er für diese Aktion zu Recht gerügt, unter anderem von Vertretern jüdischer Gedenkorganisationen. Gerade angesichts seines Amtes und seiner Familiengeschichte hätte er die Unantastbarkeit dieses Symbols respektieren sollen. Und damit komme ich zum Thema Gazakrieg. In diesem Kontext erleben Holocaustvergleiche eine Hochkonjunktur. Die Holocaust-Gedenktage im letzten Jahr waren noch nicht vorüber, da stieg im deutschen Twitter der Hashtag „gazaholocaust“ mit mehreren 1000 Posts in die Top Trends auf. Die Beispiele sind Legion. Das überbietet jetzt bei weitem alles, was man vorher gesehen hat, obwohl der Topos ganz alt ist, also noch lange vor den hohen Opferzahlen, noch lang überhaupt vor dem neuen Aufflammen des Gazakriegs. Diese Topoi, die wir da sehen werden, die gab es schon seit vielen, vielen Jahren. Ich gehe jetzt einfach ein paar durch, damit sie einen Eindruck bekommen. Sie sehen natürlich auch hier eine gewisse Ähnlichkeit im Prinzip. Auch in Form eines Hakenkreuzes. Das ist auch interessant und so wurde das in Dortmund interpretiert. „The irony of becoming what you once hated“. Das ist mein Liebling. Nicht der Mensch, sondern die Abbildung. Einer der Hamas Anführer, der hier sagt: „This new Holocaust must stop.“
„Ich weiß, dass Deutschland zwangsläufig mit Israel sympathisieren muss, denn es ist unserer Vorgeschichte geschuldet, die Jahre vor 1945, falls ihr euch erinnert, und seitdem darf Deutschland sich nicht mehr negativ über Israel äußern, denn sobald es Deutschland tut, kriegt es den N-Stempel aufgesetzt. Aber was haben wir denn von den Jahren vor 1944 gelernt? Sind wir mal ehrlich. Meine Stimme zählt nicht,…“ Das reicht. Ja, solche Videos gibt es auch en masse auf TikTok, Twitter, Telegram, Instagram, auf allen Netzwerken. Das ist hier eine Abbildung von einer Demo. Sie sehen hier, Sie sehen hier die Duschköpfe aus den Anlagen in den Todeslagern. Die werden mit den Bomben zusammengelegt und es wird gefragt: „Wo ist der Unterschied?“ Auschwitz und Gaza.
Ja, und das führt mich zu meinem letzten Beispiel, das Sie bestimmt auch mitbekommen haben. Ich möchte mich jetzt auf dieses Beispiel zum Schluss hin fokussieren. Es wurde vehement diskutiert. Ein Vergleich, den die Publizistin Masha Gessen in einem Essay bemüht hatte, kurz bevor ihr der Hannah-Arendt-Preis in Bremen verliehen wurde, allerdings dann ohne Beteiligung der Heinrich-Böll-Stiftung und der Stadt Bremen, die sich kurzfristig zurückgezogen hatten. Daraufhin ging das durch alle Feuilletons, haben Sie sicherlich gesehen und es wurden natürlich zahlreiche Vorwürfe der Zensur erhoben. Es hieß, Hannah Arendt würde heute den Hannah-Arendt-Preis nicht bekommen und so weiter und so fort. Und das alles, obwohl sie den Preis trotz allem erhalten hat, nur eben nicht unter der Trägerschaft oder nicht unter versammelter Trägerschaft.
Den emotionalen und dramaturgischen Kulminationspunkt des betreffenden Essays bildet eine Gleichung zwischen Gaza und Ghetto. Gegenüber Freiluftgefängnis müsse Ghetto als der passendere Begriff gelten. Gaza sei, Zitat, „wie ein jüdisches Ghetto in einem von Nazideutschland besetzten osteuropäischen Land.“ Und zum jetzigen Krieg heißt es „Das Ghetto wird liquidiert.“ Wie versucht Gessen nun, sowohl in ihrer Preisrede, wie auch in den zahlreichen Interviews, die sie nach Erscheinen ihres Artikels gegeben hat, die Legitimität und sogar Notwendigkeit solcher Vergleiche zu begründen? Wesentlich scheint für Gessen eine erkenntnistheoretische Argumentationslinie. Ich zitiere: „Über Vergleiche erschließen wir uns die Welt“, so heißt es in ihrer Dankesrede. Das ist eine anthropologische Trivialität, würde ich mal behaupten. Ihren Überlegungen liegen jedoch begriffliche Unschärfen zugrunde, die zu Widersprüchen führen.
Ob aus gedanklicher Sorglosigkeit oder manipulativem Kalkül, Gessen vermischt ganz und gar divergente Bedeutungen des Wortes Vergleich. Dieses bedeutet nämlich auf einer Seite den Prozess des Vergleichens, auch das ist natürlich absolut trivial, den Prozess des Vergleichens, andererseits aber auch dessen sprachlich manifestiertes Ergebnis und wird drittens unscharf im Sinne einer Gleichsetzung verwendet, was wiederum dem, viertens, engeren literaturwissenschaftlichen Verständnis des Begriffs als einer durch Vergleichswörter verbundenen Metapher entgegensteht. Wenn es nun um die triviale erkenntnistheoretische Unverzichtbarkeit von Vergleichen geht, bei Gessen heißt es dazu, „Erst neben anderen Farben wird eine Farbe zur Farbe“, so ist die Tätigkeit, die Prozedur des Vergleichens, gemeint, die Betrachtung mehrerer Objekte im Hinblick auf ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede. Tatsächlich behauptet Gessen der taz gegenüber, mit ihrem Holocaustvergleich habe sie aber auf die Feststellung einer Wesensgleichheit, „Sameness“, abstellen wollen. Dann artikuliert sie diese angebliche Identität zwischen Ghetto und Gaza in einer besonders eindeutigen Weise, nämlich als Gleichsetzung, resümiert jedoch die Zustände in Gaza mit der Formel „In anderen Worten, ein Ghetto.“
Diese Gleichung wird schon in ihrem Essay selbst auf verquere Weise konterkariert von diversen Einschränkungen und erscheinen damit teilweise wieder zurückgenommen. So gesteht Gessen unmittelbar ein, dass es essentielle Unterschiede gebe. Im SZ Interview betont sie sogar „Ein Vergleich ist keine Gleichsetzung, sondern verdeutlicht gerade die Unterschiede.“ Interessant. Die Unterschiede, die Gessens Text allerdings eher verschleiert als verdeutlicht, sind in der Tat derart essenziell, dass eine präzise Vergleichsprozedur zur Verwerfung der Gleichung hätte führen müssen. Denn gerade das Wesentliche, das Spezifische des Holocaust, „das Gegenrationale“, wie es bei Dan Diner heißt, der Judenvernichtung als fundamentalen Unterschied, so das ist es ein Begriff von Saul Friedländer, blendet Gessen aus ihrem Vergleich aus. Das entspricht in etwa dem obigen Beispiel, in dem das Wesentliche an Sokrates, nämlich seine Weisheit, aus dem Vergleich subtrahiert wurde. Du bist wie Sokrates, weil du existierst, nur dass du nicht weise, kein Philosoph und auch nicht bärtig bist. Und so muss Gessen im Spiegel-Interview dann zugeben: „Natürlich ist ein Eins-zu-Eins-Vergleich absurd.“ Also Sie sehen also, das widerspricht sich an jeder Stelle. Angesichts dieser Ungleichung wird man Gessen in einem Punkt immerhin zustimmen müssen. In Ihrer Preisrede sagt sie: „Wenn wir schlechte Metaphern oder Analogien verwenden, verstehen wir nicht, worum es geht.“ Es ist ein guter Satz. Es fragt sich nur, warum Gessen gegen ihr eigenes Gebot handelt.
Wie Hannah Arendts Biograph, Thomas Mayer, in der Frankfurter Rundschau treffend bemerkt, folgt Gessen einer allgemeinen Gleichsetzung-Manie zwischen Israels Krieg in Gaza und den Taten der Nationalsozialisten. Diese Gleichsetzungs-Manie mag kollektiv psychologisch erklärbar sein, in erster Linie versprechen Holocaustvergleiche, dank ihrer Explosivität, Aufmerksamkeit und Skandal. Indem Gessen möglicherweise just darauf spekuliert, erweist sie ihrer Sache einen Bärendienst. Denn im Skandal verschiebt sich der Diskurs von der Kritik, von den kritischen Zuständen in Gaza hin zur halb akademischen Vergleichbarkeitsfrage. Und allem voran zur medialen Person Masha Gessen, wovon man sich in den Tagen nach diesem Eklat anhand sämtlicher bundesdeutscher Feuilletons überzeugen konnte.
Eklatanter noch wird ihre Affinität zu wohlfeiler und effekthascherischer Rhetorik, wenn Gessen eine Art „Deutsches Vergleichsverbot“ heraufbeschwört, wie es in der Rede von der Unvergleichbarkeit des Holocausts zum Ausdruck komme. Dieser, im Ursprung nationalkonservative und geschichts-revisionistische Topos, erregt die Neurechten und, spätestens seit dem sogenannten Historikerstreit 2.0, auch die postkolonialen Gemüter. Gessen perpetuiert damit eine pseudo-subversive, populistische Trotzgebärde, die sich als „Man wird doch wohl noch vergleichen dürfen“ rekonstruieren ließe. Auch Gessens Feldzug gegen die Windmühlen einer imaginierten Vergleichsverbots-Maschinerie liegt übrigens die oben erläuterte Verwechslung von Vergleichsprozedur und Vergleichsergebnis zugrunde.
Kein vernünftig denkender Mensch käme, es sei denn, er wäre böswillig, auf die Idee, die Unvergleichbarkeit des Holocaust im prozeduralen Sinne zu verstehen, dass der Holocaust also nicht im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede mit anderen historischen Ereignissen abgeglichen werden dürfe. Schon der Begriff der Unvergleichbarkeit widerspricht per se dieser absurden Vorstellung, weil unvergleichbare, mithin singuläre oder spezifische Qualitäten überhaupt erst durch Vergleiche als solche erkennbar werden. Und das sagt Gessen selbst mit ihrer anthropologisch trivialen Betrachtung. Eine Unvergleichbarkeit kann allein das Ergebnis einer Vergleichsoperation sein. Wenn ich etwa urteile, ein bestimmtes Kunstwerk sei in seiner Originalität unvergleichlich, so setzt das den vorgängigen Abgleich mit anderen, mir bekannten Werken voraus. Inkriminiert im Sinne einer Unvergleichbarkeit des Holocausts werden lediglich Vergleichsergebnisse, die den Holocaust durch pauschale Analogien relativieren, also unangemessene Gleichsetzungen, wie Volker Weiß sie nennt. Als Reaktion auf solche Erosions-Bestrebungen hat Habermas, im Zuge des ersten Historikerstreits, die Unvergleichbarkeit und Singularität des Holocaust überhaupt erst postuliert.
Damit komme ich eigentlich schon zum Schluss, der sehr kurz ausfällt, weil ich hoffe, dann mit Ihnen ins Gespräch zu kommen und auch mit den anwesenden Expertinnen und Experten für Vergleiche darüber zu reden. Die Singularitätsthese, die ich eben erwähnte, die von Habermas formuliert wurde, dient dem Schutz des Gedenkens an das Menschheitsverbrechen der Shoah vor ihrer fortwährenden strategischen Instrumentalisierung, wie sie sich in den aufgezählten Beispielen zeigt. Dabei zeigt sich auch: Der Holocaustvergleich dient in der Regel keinem aufklärerischen oder analytischen Zweck, sondern der Skandalisierung und, wie ich es nennen möchte, enthüllenden Verhüllung. Die im Hintergrund wirksamen antisemitischen Narrative fungieren immer wieder als Kitt zwischen den verschiedensten Ideologien. Das ist etwas, was man feststellt, wenn man so einen Querschnitt sich ansieht oder einen Durchgang durch die verschiedenen Bereiche. Es gäbe noch zahlreiche andere. Aber mehr noch, ich denke, es handelt sich hier um ein diskursives Vehikel reaktionärer, menschenfeindlicher und verschwörungstheoretischer Ideologeme. Ein Vehikel, das qua diffuser, schmutziger Vergleichsstrategie raunend insinuiert, was nicht direkt gesagt werden kann.
Das ist mein dürftiges Fazit. Ich hoffe, es war erträglich, sowohl was das Bildmaterial angeht, als auch was meinen Vortrag angeht. Danke für Ihre Aufmerksamkeit und ich bin sehr gespannt darauf, wie wir noch darüber ins Gespräch kommen.

In der Szene der Corona-Skeptiker*innen kam es Estis zufolge zu absurden Vergleichen, bei denen sich die Impfkritiker*innen als neue „Juden“ inszenierten und staatliche Maßnahmen mit der NS-Verfolgung gleichsetzten. Der Autor spricht von einer gezielten „Appropriation der Shoah“, bei der das Narrativ der Opfer schlicht umgekehrt wird.