Sie gehört zu Europas besten Nachwuchswissenschaftler*innen, ausgezeichnet mit einem Forschungsstipendium über 1,5 Millionen Euro. Trotzdem ist die Anthropologin Minh Nguyen kein bisschen abgehoben.
Es sei die Arbeitsethik, die ihr in Bielefeld gefalle, sagt Professorin Dr. Minh Nguyen mit einem Lachen: „Die Menschen arbeiten hart, sie sind bodenständig und leben nicht über ihre Verhältnisse.“ Diese ostwestfälische Bescheidenheit passt gut zur Lebenseinstellung der Anthropologin. Denn eine Förderung mit dem ERC Starting Grant setzt hartes Arbeiten voraus. Doch Minh Nguyen ist bescheiden: „Ich versuche mein Bestes“, sagt sie nur und fügt an, es habe eine gewisse Ironie, dass viele nicht zu hart arbeiten wollten, um sich nicht selbst auszubeuten; dass harte Arbeit auf der anderen Seite aber sehr wichtig sei, um etwas zu erreichen.
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Wie Wanderarbeit und Wohlfahrt zusammenhängen
Mit dem ERC Starting Grant hat die Vietnamesin etwas erreicht, was nur wenigen Wissenschaftler*innen gelingt. Es sei „das“ Forschungsstipendium schlechthin. „Das kannst du eigentlich gar nicht bekommen“, meint Minh Nguyen. Neben dem Prestige, das sie selbst bei einem Besuch in China zu spüren bekommen hat, ist es vor allem die Autonomie, die mit dem ERC Grant einhergeht. Die hohe Fördersumme ermöglicht es jungen Wissenschaftler*innen, ein eigenes Team aufzubauen und über längere Zeit zu forschen, ohne großen Druck, zu schnell zu publizieren und sich ständig mit neuen Forschungsanträgen zu beschäftigen. In Zeiten, in denen auch im Wissenschaftsbetrieb vermehrt auf ökonomische Verwertbarkeit der Forschung geschaut werde, sei das schon etwas Besonderes, so Minh Nguyen.
Mit ihrem neu aufgebauten Forschungsteam untersucht die Professorin für Sozialanthropologie Wohlfahrtssysteme anhand der Versorgung für Wanderarbeitskräfte in globalen Fabriken in China und Vietnam. Dort schrauben Millionen Menschen tausende Kilometer entfernt von zu Hause Smartphones zusammen, produzieren Kleidung oder stellen andere Konsumgüter her, berichtet Minh Nguyen. „Deshalb spielen Mobilität und Migration eine zentrale Rolle für meine Forschung“, sagt sie. Dabei geht es um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse in Bezug auf das Wohlfahrtssystem, um moralische Dynamiken und um Forderungen und Auseinandersetzungen zwischen Empfänger*innen und Träger*innen der Wohlfahrt.
Streben nach einem guten Leben
Einmal auf ihre Forschungsarbeit angesprochen, sprudelt es aus der sonst eher zurückhaltenden Frau heraus. Sie ist in ihrem Element, wenn sie vom Wandel in China und Vietnam berichtet, zwei sozialistische Länder, in denen inzwischen die Marktwirtschaft Einzug gehalten hat. Die Menschen dort erlebten einerseits eine gewaltige Umstrukturierung des Arbeitsmarkts wegen Privatisierung und Globalisierung. Andererseits erlebten sie eine Ausdehnung des staatlichen Wohlfahrtsystems, dessen neue Dynamiken und Wirkungen noch wenig bekannt sind, erzählt sie. Für die Menschen gehe es nicht mehr nur ums Überleben, sondern es gebe zunehmend ein Streben nach einem guten Leben. Diese Veränderungen hätten sie auf die Idee für ihr Forschungsvorhaben WelfareStruggles gebracht, für das sie den ERC Starting Grant erhielt. In dem Projekt geht es deshalb auch um die alltäglichen Schwierigkeiten, mit denen die Menschen sich um ihre soziale Versorgung bemühen, vor allem wenn sie ihre Familienleben zwischen Arbeitsort und zu Hause führen.
Besonders freut sich Minh Nguyen auf die anstehende Feldforschung. Im Laufe des Jahres will sie mit ihrem Team Wanderarbeitskräfte und deren Familien in China und Vietnam besuchen – falls das angesichts der Einreisebeschränkungen wegen der Corona-Krise möglich ist. Ethnografische Studien sind für die Anthropologin das Herzstück ihrer Arbeit. Forschende tauchen dafür über lange Zeiträume in die alltäglichen Realitäten von Menschen und Gemeinschaften ein, um zu verstehen, wie größere Prozesse und Machtverhältnisse in ihrem Leben ablaufen.
Aus der Planwirtschaft Vietnams nach Bielefeld
Die Beschäftigung mit unbekannten Lebenswelten hat die Wissenschaftlerin bereits als Kind gereizt. Aufgewachsen in der Planwirtschaft der Achtzigerjahre in Vietnam, hat sie sich schon früh für die „Welt da draußen“ interessiert. Sie verschaffte sich Zugang zu deutscher, englischer, französischer und sowjetischer Literatur, was ihr Interesse an der Außenwelt noch beflügelte: „Das hat mich irgendwie gereizt: Es gibt eine Welt jenseits von Vietnam, die ich kennenlernen und an der ich teilhaben wollte.“
Ihr Studium verschlug sie nach Australien und Großbritannien, bevor sie eine Stelle am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale annahm. Die Auslandsstationen hätten sich nach und nach ergeben, sagt die 43-Jährige, die bei der Frage nach ihrem Alter kurz überlegen muss, weil nach vietnamesischer Zählung immer ein bis zwei Jahre hinzugezählt werden. In Bielefeld ist sie nun seit 2018 zu Hause. Sie lebt hier mit ihrem deutschen Mann und ihrer 13-jährigen Tochter.
Minh Nguyen blickt der Zeit nach der Corona-Krise entgegen : Dann ist sie wieder häufig auf dem Markt am Kesselbrink anzutreffen, wo sie Fisch kauft. Anschließend macht sie einen Abstecher zum vietnamesischen Supermarkt nebenan. Viele exotische Zutaten braucht sie aber nicht: „Für Vietnamesen sind Reis und Fischsauce das Wichtigste. Solange ich das beides habe, ist alles gut!“ Vietnamesisch-ostwestfälische Bescheidenheit eben.
Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus „BI.research“, dem Forschungsmagazin der Universität Bielefeld. Die neue Ausgabe des Magazins erscheint im Mai 2020.