Hast Du schon gehört? Weißt Du schon? Gerüchte begleiten die Geschichte der Menschheit vermutlich von Beginn an. In Zeiten der Sozialen Medien haben sie eine nie dagewesene Macht und Reichweite. Doch die alltägliche Nachrichtenkommunikation via Gerücht wurde bislang kaum empirisch untersucht. Um diese Lücke zu schließen, sind nun Expert*innen aus Kommunikationsgeschichte, Linguistik, Kommunikationswissenschaften, Mediensoziologie sowie Kultur- und Literaturwissenschaften ans Bielefelder ZiF eingeladen. Drei Fragen an den Bielefelder Historiker und Workshopleiter Dr. Jan Siegemund.

© Siegemund
Wie erforscht man eigentlich historische Gerüchte?
Das ist tatsächlich eine der zentralen Fragen unseres Workshops. Ein großer Teil der Forschung untersucht vor allem, was Zeitgenoss*innen über Gerüchte gesagt haben, also die Metakommunikation über Gerüchte. Hieran lassen sich vor allem Vorstellungen von der Gerüchtekommunikation, ihrer Bedeutung für die jeweilige Öffentlichkeit und damit verbundene Normen identifizieren und analysieren.
Inzwischen entstehen außerdem neue Ansätze, insbesondere von der Linguistik geprägt, die auch die Gerüchtekommunikation selbst in den Blick nehmen – etwa in Online-Foren. Solche Zugänge lassen sich auch auf historische Kommunikationsformen übertragen. Gerade in Briefen, Flugblättern oder frühen Zeitungen wurden mündlich kursierende Gerüchte schriftlich fixiert und werden dadurch für heutige Forscher*innen unmittelbar untersuchbar.
An der Erforschung solcher Phänomene sind viele Disziplinen beteiligt: neben der Linguistik auch die Medien- und Kommunikationswissenschaft, die Kommunikationsgeschichte, die Literatur- und Kulturwissenschaft und nicht zuletzt die Mediensoziologie, die wichtige theoretische Impulse liefert.
Was sagen Gerüchte über die Gesellschaft aus, die sie hervorgebracht hat?
Gerüchte können als Spiegel gesellschaftlicher Wahrnehmung von Nachrichtenunsicherheit fungieren. Unser Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich über den Umgang mit Gerüchten viel darüber erfahren lässt, wie eine Gesellschaft unsichere Nachrichten verarbeitet und unsicheres Wissen problematisiert. Der Stellenwert, den Gerüchte in einem bestimmten historischen Moment haben, hängt immer auch davon ab, welche anderen Kommunikationskanäle verfügbar sind und als vertrauenswürdig gelten. Insofern sind Gerüchte eng mit Fragen der Medialisierung und der Wahrnehmung von Unsicherheit verknüpft.
Zugleich ist Gerüchtekommunikation nie neutral. Sie ist durch soziale Differenzkategorien wie race, class und gender geprägt. Gut erkennen lässt sich dies etwa am „Klatsch“, engl. gossip, ein Begriff, der historisch gesehen häufig abwertend für kommunikative Praktiken von Frauen verwendet wird. Im Workshop wollen wir aber auch danach fragen, inwiefern Gerüchte für marginalisierte Gruppen Handlungsspielräume eröffnen können.
Kann man aus der historischen Forschung über Gerüchtekommunikation etwas über die Bedeutung von Gerüchten in Zeiten Sozialer Medien lernen?
Der historische Blick kann sensibilisieren: Er zeigt, wie komplex das Phänomen ‚Gerücht‘ ist und wie eng es mit medialen Strukturen verknüpft bleibt. In unterschiedlichen Epochen lässt sich beobachten, dass medialer Wandel – oder umfassender: die Medialisierung der Lebenswelt – immer auch die Wahrnehmung von Unsicherheit verändert. Damit verschieben sich zugleich die Kriterien, nach denen Menschen Nachrichten Verlässlichkeit und Gewissheit zuschreiben. Gerade vor diesem Hintergrund kann die historische Perspektive helfen, aktuelle Dynamiken in sozialen Medien differenzierter zu verstehen.
Der Workshop „Unsichere Nachrichten im medialen Wandel. Potentiale einer empirischen Untersuchung der Gerüchtekommunikation in Vormoderne und Moderne“ findet am 10. und 11. November statt.