Was macht ein Individuum aus und wie wirkt es sich auf seine Umwelt aus? Der Fokusbereich „InChangE – Individualisierung in sich wandelnden Umwelten“ widmet sich dieser Frage aus interdisziplinärer Perspektive. Forschende aus Biologie, Philosophie, Psychologie, Soziologie und weiteren Disziplinen verknüpfen Daten und Theorien, um die Ursachen und Folgen individueller Unterschiede zu verstehen. Ihr Ziel: eine neue Wissenschaft der Individualisierung, die sowohl den Menschen als auch das Tier in den Blick nimmt.
Warum verhalten sich Tiere derselben Art unterschiedlich? Wie entstehen individuelle Unterschiede bei Menschen und Tieren? Und welche Folgen hat das für ihre Umwelt? Mit diesen Fragen befasst sich der Fokusbereich InChange („Individualisation in Changing Environments“, „Individualisierung in sich wandelnden Umwelten“) an der Universität Bielefeld. Ziel der Forschenden ist es, disziplinübergreifend zu ergründen, was Individuen einzigartig macht, und welche Auswirkungen das auf Ökosysteme, Gesellschaften und Gesundheit hat.
Die Wurzeln dieser Forschungsrichtung reichen mehr als 15 Jahre zurück: Eine erste gemeinsame Gruppe der Universitäten Bielefeld und Münster untersuchte bereits damals, wie und warum sich einzelne Tiere einer Art in ihrem Verhalten unterscheiden. Daraus entstand später der Sonderforschungsbereich TRR 212 (NC³), der den Begriff der Nische in der Biologie neu dachte: Nicht der Durchschnitt ist entscheidend, sondern die individuell gelebte Nische.

© Stefan Sättele
Individuelle Unterschiede und ihre Folgen
Diese Erkenntnisse fließen in den neuen Forschungsbereich InChangE ein, der gemeinsam mit der Universität Münster aufgebaut wurde. Zehn Disziplinen arbeiten hier zusammen: Biologie, Psychologie, Soziologie, Medizin, Philosophie, Ökonomie, Geoinformatik, Geschichte, Linguistik und Umweltwissenschaften. „Die Umwelt verändert sich schneller, als uns allen lieb ist“, sagt Professorin Dr. Barbara Caspers, Sprecherin von InChangE. „Wir wollen besser verstehen, wie Individuen auf solche Veränderungen reagieren, und welche Rolle Individualisierung dabei spielt.“
Wie sehr sich Tiere unterscheiden und welche Folgen das hat, zeigen Beispiele aus der Forschung: Bei Galápagos-Seelöwen etwa beeinflusst das Geburtsgewicht nicht nur das spätere Krankheitsrisiko, sondern auch den Zeitpunkt, zu dem sich die Tiere fortpflanzen. Bei Feuersalamandern gibt es Frühaufsteher, die gleich nach Einbruch der Dunkelheit auf Nahrungssuche gehen, und solche, die erst in der zweiten Nachthälfte aktiv werden. „Um sie zu schützen, müssen wir diese Unterschiede verstehen“, sagt Caspers.

© Universität Bielefeld/O. Krüger
Das Allgemeine im Detail erforschen
Die zentralen Fragen der Initiative lauten: Wie entstehen individuelle Unterschiede? Wie werden sie vererbt oder geprägt? Und was bedeutet das für das Zusammenleben – in Tiergruppen, Ökosystemen, aber auch in menschlichen Gesellschaften? „Wir wollen das allgemeine Prinzip im Detail erforschen“, sagt Professor Dr. Oliver Krüger, ebenfalls Sprecher von InChangE. „Wie beeinflussen andere Individuen unsere Persönlichkeit? Nach welchen Kriterien wählen wir aus, mit wem wir unsere Zeit verbringen? Und was lässt sich zum Beispiel vom Verhalten von Feuersalamandern auf den Menschen übertragen?“
Hier kommen weitere Fachrichtungen ins Spiel, etwa die Psychologie. „Das sind natürlich komplexe Fragen“, so Krüger. „Aber wir fangen nicht bei null an.“ Die Verhaltensbiologie liefert bereits viele Grundlagen, etwa zur Frage, ob Tiere Persönlichkeiten haben. „Selbst Insekten zeigen nachweislich stabile Verhaltensmuster“, sagt Krüger. Nun geht es darum, diese Erkenntnisse mit psychologischen Begriffen wie Bindung und Sozialverhalten zu verknüpfen.
Verknüpfte Lebensverläufe
„In vielen wissenschaftlichen Disziplinen gibt es Konzepte und Methoden für Individualisierung“, sagt Professorin Dr. Marie Kaiser, ebenfalls Sprecherin von InChangE. „Doch oft sind sie die Ansätze so unterschiedlich, dass es philosophisch-begriffliche Arbeit erfordert, um sie miteinander vergleichbar zu machen. Unter Beteiligung von Caspers, Krüger und Kaiser ist der Artikel „An Interdisciplinary Linked Lives Approach to Individuality in Social Behaviour“ („Ein interdisziplinärer Ansatz verknüpfter Lebensverläufe zur Erklärung individueller Unterschiede im Sozialverhalten“) im Journal „Nature Human Behaviour“ erschienen. „Wir haben darin interdisziplinäre Ansätze entwickelt, um im Mensch-Tier-Vergleich die Merkmale und Folgen von individuellen Unterschieden im Sozialverhalten besser zu verstehen.“

© Stefan Sättele
Eine gemeinsame Sprache finden
Auch philosophische Fragen spielen eine Rolle: Was macht eine Persönlichkeit aus? Welche einheitlichen Begriffe brauchen wir für den Mensch-Tier-Vergleich? Welche Individuen beeinflussen Gesellschaften besonders stark – und warum? „Wir sehen aktuell in der Politik, wie stark einzelne Menschen Entwicklungen prägen können“, sagt Krüger. „Wenn sich ein Individuum verändert, kann das ein ganzes System verändern, in der Natur genauso wie in der Gesellschaft.“
Sogar in der Medizin lassen sich Parallelen ziehen: So gibt es nicht nur bei Seelöwen, sondern auch bei Menschen Hinweise darauf, dass das Geburtsgewicht das Risiko für bestimmte Erkrankungen beeinflusst. Und Lachse, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, zeigen Verhaltensmuster und Stoffwechselmerkmale, die an depressive Menschen erinnern. „Unser Ziel ist es, eine gemeinsame Sprache zu finden“, sagt Krüger. „Wir wollen Hürden zwischen den Disziplinen abbauen, Methoden vergleichen und voneinander lernen, um eine umfassendere Sicht auf das Individuum zu gewinnen.“