Ein rascher Blick aufs Handy, das Lesen von Mails, Nachrichten oder Chats, aber auch Texte auf digitalen Displays im öffentlichen Raum – all das zeigt, wie schnelle Lektüre unseren Alltag prägt. Die Digitalisierung verändert, was und wie wir lesen. Die Literaturwissenschaftlerinnen Dr. Elisa Ronzheimer und Dr. Kristina Petzold untersuchen im Sonderforschungsbereich (SFB) 1288 „Praktiken des Vergleichens“ der Universität Bielefeld die Kulturpraktik des Lesens. Sie erklären, wie sich neue Leseweisen entwickelt haben, und warum das gedruckte Buch trotzdem seinen festen Platz behält.
Verändert die Digitalisierung die Art und Weise, wie wir lesen?
Elisa Ronzheimer: Die Digitalisierung ist noch nicht abgeschlossen, daher sind grundsätzliche Aussagen schwierig. Unbestritten hat sie unser Lesen tiefgreifend verändert. Heute lesen wir oft mehrere Dinge gleichzeitig und nutzen dabei das Internet als Wissensarchiv – etwas, das früher nicht möglich war. Doch eine eindimensionale Gegenüberstellung von konzentriertem und zerstreutem Lesen wird der Realität nicht gerecht. Auch früher haben sich Menschen nicht nur stundenlang in Texte vertieft.
Kristina Petzold: Es kursieren viele unterkomplexe Thesen darüber, was gerade geschieht. Dabei müssen wir uns darauf einigen, was Lesen überhaupt ist. Die Menge an Texten, die uns durch Monitore und Smartphones zur Verfügung steht, hat sich nämlich drastisch vervielfacht. Gleichzeitig wird erforscht, wie sich unsere Wahrnehmung verändert, wenn Texte durch Maschinen vorgefiltert werden. Viele Leser*innen überschätzen am Monitor ihr Textverständnis. Die Empfehlung für Schulen lautet deshalb, weiterhin das Lesen gedruckter Bücher zu fördern, zusätzlich zu digitalen Formaten.
© Philipp Ottendörfer
Welche Beispiele zeigen, wie technologische Entwicklungen das Lesen verändert haben?
Elisa Ronzheimer: Blicken wir in die Geschichte, war beispielsweise der Buchdruck ein Ereignis, das die Art und Weise, wie wir lesen, revolutioniert hat. Die Erfindung der Druckpresse war ein wichtiger Faktor für die Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten. Diese neue Technologie hat – neben anderen Entwicklungen wie der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit oder dem modernen Bildungssystem – dazu beigetragen, dass das Lesen den hohen Stellenwert bekam, den es heute in unserer Kultur hat. Im digitalen Zeitalter gibt es neue Rezeptionsbedingungen, und das Lesen verändert sich erneut. KI-Modelle wie ChatGPT sind beeindruckende „Lesemaschinen“, doch Leser*innen müssen oft überprüfen, ob der Text richtig verstanden wurde. Das wirft die Frage auf: Ist Lesen nur Informationsverarbeitung oder steckt mehr dahinter? Aus literaturwissenschaftlicher Sicht geht es beim Lesen auch um Geschmack und ästhetische Erfahrung – es ist mehr als nur der Austausch von Informationen.
Kristina Petzold: Lese-Communities auf verschiedenen Plattformen und in sozialen Medien sind ebenfalls spannend. Der Einfluss digitaler Lesekulturen wird oft unterschätzt, wenn es um die Zukunft des Lesens geht. Die Buchhandelszahlen, besonders in den Bereichen Hörbücher und Kinder- sowie Jugendbücher sind gut, vor allem im Young-Adult-Genre. Diese Segmente boomen, weil solche digitalen Lesekulturen auf Plattformen wie TikTok oder Instagram entstanden sind. Diese Trends beeinflussen sogar die Bestsellerlisten und zeigen, dass Jugendliche nicht unbedingt weniger lesen – es gibt durchaus neue Lese-Trends.
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Eine Gefahr für das traditionelle Lesen entsteht also nicht?
Kristina Petzold: Ich glaube nicht, dass plötzlich niemand mehr Bücher lesen wird. Die Verkaufszahlen sind stabil, und es gibt – gerade in digitalen Buch-Communities – eine anhaltende „Bookishness“, wie es die US-Literaturwissenschaftlerin Jessica Pressman nennt – ein starkes, fast schon fetischistisches Festhalten am gedruckten Buch als Objekt. Und das genüssliche Lesen für besondere Momente wird in digitalen Communities regelrecht zelebriert.
Elisa Ronzheimer: Technologien verändern das Lesen, das ist unausweichlich. Es gibt Warnungen, dass wir die Fähigkeit zum tiefen Lesen verlieren könnten. Ich glaube das nicht. Stattdessen erleben wir eine größere Vielfalt an Formen des Lesens. Im postdigitalen Zeitalter, in dem digitale und analoge Medien nebeneinander existieren, müssen wir lernen, zwischen verschiedenen Leseweisen zu wechseln – das haben auch Leseforscher wie Gerhard Lauer betont. Beispielsweise lese ich schnell E-Mails, arbeite mit gedruckten Büchern und recherchiere parallel mal kurz auf Wikipedia. Die Fähigkeiten zum flexiblen Wechsel zwischen verschiedenen Leseweisen sollten in der Schule vermittelt werden – sowohl das Lesen gedruckter Bücher als auch der Umgang mit digitalen Medien. Das ist eine Herausforderung.
Wie viele Leseweisen sollten wir denn beherrschen?
Elisa Ronzheimer: Im digitalen Zeitalter sind wichtige Lesemodi das Deep Reading im Gegensatz zum oberflächlichen Surface Reading, das immersive Lesen, bei dem wir tief in einen Text eintauchen, und das extensive Lesen, bei dem wir große Mengen an Text erfassen. Auch Speed Reading, bei dem wir lernen, schnell viele Informationen aufzunehmen, und Slow Reading sind relevant. Zudem gibt es die Unterscheidung zwischen konzentriertem und zerstreutem Lesen, bei dem mehrere Bildschirme und Quellen gleichzeitig genutzt werden.
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Welche weiteren Entwicklungen rund um das digitale Lesen sind erkennbar?
Kristina Petzold: Es gibt großes Potenzial, neue Personengruppen anzusprechen. Die Demokratisierung der Literaturkritik und eine größere Vielfalt an Stimmen werden gefordert. Neue Technologien und Plattformen bieten mehr Orte, an denen sich Leser*innen austauschen können, und erreichen so auch Menschen, die sonst vielleicht nie ein Buch in die Hand genommen hätten. Dadurch entsteht eine neue Zugänglichkeit zur Literatur. Trotz der Hoffnung auf Demokratisierung und trotz des Potenzials und besserer Zugänglichkeit: Es bleiben viele Hürden, und das Internet tradiert alte und bringt auch neue Hierarchien hervor.
Elisa Ronzheimer: Lyrik auf Instagram ist ein Beispiel: Autor*innen, die früher keine Veröffentlichungschancen hatten, können heute Gedichte posten. Gleichzeitig führt die Aufmerksamkeitsökonomie in den sozialen Medien dazu, dass einige Lyriker*innen viel Aufmerksamkeit erhalten, während andere kaum sichtbar sind. Diese Konzentration auf wenige reproduziert Strukturen des klassischen Buchmarkts.