Im Transferprojekt InCamS@BI ist die Forschungsgruppe Analytik und Materialentwicklung auf der Suche nach neuen Methoden zur Analyse von Kunststoffen. Professor Dr. Andreas Hütten und die Doktorandin Judith Bünte von der Universität Bielefeld nutzen Elektronenstrahlen, um Atomen, Gitterstrukturen und Schichtsystemen auf die Spur zu kommen. Denn: Nur, wenn man ihre Bestandteile genau kennt, lassen sich Kunststoffe in eine Kreislaufwirtschaft integrieren. Für InCamS@BI kooperieren Forschende der Universität Bielefeld und der Hochschule Bielefeld.
Mit Schutzbrille und Handschuhen öffnet Judith Bünte vorsichtig einen unscheinbaren Behälter und holt einen zylinderförmigen Gegenstand heraus. Es dampft aus dem oberen Ende. Bünte kippt den Rauch in ein drei Meter hohes Gerät: das Transmissionselektronenmikroskop. Es ist dampfender Flüssigstickstoff, den die Experimentalphysikerin nutzt, um ihre Probe sauber zu halten. Zurzeit arbeitet sie noch mit Proben aus Metall, künftig möchte sie Kunststoffproben analysieren. Sie forscht in InCamS@BI, dem Innovation Campus for Sustainable Solutions (Innovationscampus für nachhaltige Lösungen) der Universität Bielefeld und der Hochschule Bielefeld (HSBI), der von der HSBI koordiniert wird. In den Laboren der Experimentalphysik der Universität zeigt sie, welche Geräte sie dafür nutzt.
© Patrick Pollmeier/HSBI
Mit dem Elektronenstrahl durch die Probe
Der Eingang zu dem modernen Gebäude ist verglast, durch die Front sind die neongelben Wände schon zu sehen. Drei Türen werden passiert, dann stehen die Besucher in einem kleinen Flur. Von hier gelangt man zum Reinraum, zum Rasterelektronenmikroskop (REM) und zum Transmissionselektronenmikroskop (TEM). Wer lediglich ein kleines Mikroskop auf einem Tisch erwartet, wird überrascht: In Raum E0-311 steht ein riesiges unförmiges graues Gerät, das den größten Teil des Raums einnimmt und durch Kabel mit verschiedenen weiteren Elementen verbunden ist. Auf einem Schreibtisch neben dem TEM sind verschiedene Steuerungseinheiten, drei Bildschirme, Tastatur und Maus zu finden. Bünte kennt das komplizierte TEM gut – bereits für ihre Masterarbeit an der Universität hat sie hier viel Zeit verbracht.
In einem Transmissionselektronenmikroskop werden Elektronenstrahlen auf eine Probe gerichtet und durchdringen diese, sofern sie dünn genug ist. Die Elektronen werden durch die Probe gestreut und von einem Detektor auf der anderen Seite „aufgefangen“. Je nachdem, auf welche Atome sie treffen, verhalten sie sich anders. Die unterschiedlichen Wechselwirkungen haben einen Einfluss auf beispielsweise die Energie und den Austrittswinkel. Die Wechselwirkungen verraten, aus welchen Bereichen der Probe die Elektronen gestreut werden.
Analyse im Vakuum, damit Luftmoleküle nicht stören
In einem Halter platziert die Forscherin die Metallprobe, die im Durchmesser etwa drei Millimeter beträgt. „Das hier ist eine Probe aus dem Metall Kobalt. Eine Kollegin hat sie in einer sogenannten Sputteranlage hergestellt, weil wir für das TEM sehr dünne Proben benötigen. Auf der 50 Nanometer dünnen Kobaltschicht ist noch eine zwei Nanometer Schicht aus Ruthenium, die die Probe vor Oxidation schützen soll.“ Bünte schiebt den Halter in das TEM, legt einen Schalter um. Die Probe ist jetzt in einer Schleuse, die verhindert, dass Luft von außen in das Gerät gelangt. Um zu verhindern, dass während der Untersuchung noch Restgasmoleküle an der Probe haften, füllt sie ein Dewargefäß an der Säule des TEM mit Flüssigstickstoff. Dieser dient als Kältemittel, da er eine Temperatur weit unter dem Gefrierpunkt von Wasser aufrechterhalten kann – in diesem Fall minus -196,15 Grad Celsius. Der Stickstoff kühlt einen „Kupferkühlfinger“, der sich oberhalb der Probe im TEM befindet und an dem unerwünschte Atome und Moleküle kondensieren. Damit bleibt die Probe rein und kann nun im TEM analysiert werden. Im Gerät herrscht ein Vakuum, damit die Luftmoleküle die Elektronenstrahlen nicht ablenken.
Atome in Kunststoffen sichtbar machen
„Wir sehen hier nur winzige Ausschnitte der Probe. So klein, dass wir einzelne Atomsäulen und Kristallgitter betrachten können“, erklärt Bünte, die sich die Ergebnisse gemeinsam mit Professor Dr. Andreas Hütten am Bildschirm anschaut. Er ist ihr Doktorvater, hat bereits ihre ersten wissenschaftlichen Arbeiten betreut und unterstützt sie als Mentor in InCamS@BI. Beide gehören zur InCamS@BI-Forschungsgruppe Analytik und Materialentwicklung. Die Gruppe ist an der Universität Bielefeld angesiedelt und besteht ihrerseits aus drei Arbeitsgruppen: der von Professor Dr. Andreas Hütten, der von Professor Dr. Harald Gröger und der von Professor Dr. Dario Anselmetti. Judith Bünte ist als Technologiescout in der Gruppe von Andreas Hütten und promoviert bei dem Experten für die Physik von Nanostrukturen, der seit 1997 an der Universität forscht und lehrt.
© Patrick Pollmeier/HSBI
Zurück ins Labor: Ein weiteres Gerät, das hier zum Einsatz kommt, ist die FIB. Das steht für Focused Ion Beam, zu Deutsch: fokussierter Ionenstrahl. Hier wird mit hochenergetischen Ionen aus einer Probe ein Stück herausgeschnitten und mit dem Rasterelektronenmikroskop (REM), das in der FIB integriert ist, untersucht. Anders als beim TEM wird im REM ein Elektronenstrahl in einem festgelegten Muster über die Probe geführt. Der Strahl geht nicht durch die Probe hindurch, sondern wird zurückgestreut. Sowohl REM, TEM als auch FIB werden zurzeit für metallische oder biologische Proben genutzt. „Mich begeistert hier am meisten, dass ich mit den Mikroskopen tatsächlich die Atomsäule sehen kann“, erzählt die Doktorandin.
Der nächste Schritt: Methoden zur Metallanalyse auf Kunststoffe übertragen
Im Projekt InCamS@BI ist es Büntes Aufgabe, diese Methoden an Kunststoffen auszuprobieren. „Je nach Kunststoffart müsste die Methode angepasst werden“, so Bünte. „Die Schwierigkeit ist, dass die Atome in Kunststoffmolekülen sehr leicht sind im Gegensatz zu Metallen. So werden die Elektronen kaum abgelenkt und auf den Bildern ist zu wenig Kontrast. Eine Frage lautet deshalb: Wie können die Forschenden Kunststoffe besser sichtbar machen?“ Eine weitere Herausforderung: Kunststoffe werden durch die Energie des Elektronenstrahls schnell zerstört. Bünte und Hütten tauschen sich viel aus, diskutieren, probieren Neues.
Hütten weiß, dass sich die Interdisziplinarität lohnt: „Unser Team knüpft jetzt an die analytische Arbeit im Centrum für interdisziplinäre Materialforschung und Technologieentwicklung, kurz CiMT, an. Dort haben wir Toolboxen zur Bestimmung der Alterungsmechanismen von verschiedenen Polypropylen-Werkstoffen entwickelt, die wir nun auf die Herausforderungen des InCamS@BI-Projekts anwenden können.“ An einer Toolbox für die Optimierung der Wiederverwendung von Kunststoffen, arbeitet jetzt die Forschungsgruppe Analytik und Materialentwicklung. Solche Toolboxen sollen Unternehmen künftig dabei unterstützen, zirkulär zu wirtschaften.
© Patrick Pollmeier/HSBI
Ein Beitrag zur Nachhaltigkeit
„Je mehr ich mich auf wissenschaftlicher Ebene in die Kunststoffthematik einarbeite, desto schwieriger erscheint es mir, diese Thematik an die Gesellschaft, an Fachfremde, an naturwissenschaftliche Laien heranzutragen“, sagt Bünte. Denn auch das ist Ziel von InCamS@BI: Wissen und Ideen nicht nur mit der Wirtschaft auszutauschen, sondern auch mit der Gesellschaft. Und gerade für die ist die Materialforschung im Bereich Kunststoffe enorm relevant: Kaum jemand kommt ohne Kunststoffprodukte im Alltag aus. „Es gibt viele Herausforderungen, die mit Kunststoffen einhergehen – die Vermüllung unserer Meere ist nur eines davon. Umso spannender finde ich es, dass wir hier in Bielefeld, in der Forschung, unseren Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten können.“