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„Müssen weiterhin zum Nahostkonflikt sprechen können“


Autor*in: Julia Bömer

Professor Dr. Oliver Razum leitet nicht nur die Arbeitsgruppe Epidemiologie & International Public Health an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Innerhalb des Netzwerks ASPHER, einem Zusammenschluss von über 120 gesundheitswissenschaftlichen Fakultäten in Europa, leitet er die Taskforce zu Krieg und Public Health. In dieser Funktion hat er mit internationalen Kolleg*innen eine Reise zu den Mitgliedern in Israel und Palästina initiiert. Dort hat er Fakultäten besucht, mit Wissenschaftler*innen und Studierenden gesprochen – unter anderem an der Ben-Gurion University of the Negev, Partneruniversität der Universität Bielefeld. Ziel der Gesundheitswissenschaftler*innen war es, vor Ort einen Einblick in die Situation nach dem 7. Oktober 2023 und die Anforderungen an die Gesundheitsversorgung zu erhalten – und darüber ins Gespräch zu kommen. Ein Interview dazu, was Wissenschaft im Nahostkonflikt leisten kann und wie die Beobachtungen, Gespräche und das Erlebte der Reise in die Bielefelder Lehre einfließen.

Herr Razum, wenn Sie an Ihren etwa einwöchigen Aufenthalt in Israel und Palästina mit etwas Abstand zurückdenken: Was bleibt Ihnen besonders im Gedächtnis?

Das Leid aller, mit denen ich gesprochen habe. Eine Traumatisierung nicht nur auf der Ebene des Individuums, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene – in Israel und in Palästina. Wir sprechen ja über vergleichsweise kleine Länder. Fast alle kennen jemanden, der oder die von Gewalt betroffen ist oder sind es selbst. Diese Traumatisierung konnten wir festmachen an den tragischen und schrecklichen Geschichten, die wir gehört haben – sowohl in Israel als auch in Palästina. Als das Internet stabil war, konnten wir eine Videoschalte zu einem professoralen Kollegen in Gaza machen. Er hat seinen Neffen und seine Nichte während des Kriegs verloren, ist seit dem 7. Oktober 2023 sechs Mal umgezogen und hat uns Bilder davon gezeigt, wie er zurzeit sein Mittagessen auf einem Tonkrug mit Feuer kochen muss. Ein anderer Kollege einer School of Public Health in Israel hat uns berichtet, wie er in einer Familienchat-Gruppe miterleben musste, wie seine Schwester und Schwager erschossen wurden, während ihre Kinder um Hilfe riefen. Das sind Geschichten, die ich nicht vergessen kann.

Was haben Sie außerdem aus Ihrer Perspektive des Gesundheitswissenschaftlers in Israel und Palästina beobachtet?

Zunächst einmal eine Spaltung in der israelischen und in der palästinensischen Gesellschaft, in der sich viele Menschen überhaupt nicht mit der Politik der Regierungen identifizieren. Viele dieser Menschen sind auf der Suche nach Wegen, wie sie trotz allem zusammenleben können. Das wird aber erschwert durch die enormen Schmerzen und das enorme Leiden aller Menschen.

Portrait von Prof. Dr. Oliver Razum
Prof. Dr. Oliver Razum hat innerhalb einer Task Force zu Krieg und Public Health eine Delegationsreise nach Israel und Palästina initiiert.

Was kann der Besuch Ihrer Gruppe internationaler Gesundheitswissenschaftler*innen bewegen?

Public Health ist ein Thema von Forschung, Lehre und Praxis. Wir befassen uns mit sozialen und politischen Einflussfaktoren auf Gesundheit – wir nennen sie Determinanten. Und genau solche Determinanten treffen aktuell die israelische und die palästinensische Gesellschaft: Wir sehen die direkten und indirekten Folgen der Gewalt. Wir sehen aber auch den ungeheuren Gesprächsbedarf. Ich selbst hatte vor der Reise Sorge, dass wir eine Art Katastrophentourismus betreiben. Das Gegenteil war der Fall: Wirklich alle Menschen in Israel und Palästina, mit denen wir gesprochen haben, entgegneten uns: „Danke, dass ihr da ward und uns zugehört habt.“ Dass jemand kommt, zuhört und bereit ist zu glauben, dass es dieses Leiden gibt, ist wichtig für die Menschen in der Region. Unser Besuch hatte also eine unterstützende und solidarisierende Komponente. Vielleicht war es aber auch ein kleiner Schritt in eine notwendige Richtung: das gegenseitige Leiden anzuerkennen und nicht länger in wechselseitigen Schuldzuweisungen zu verharren.

Was ist der Beitrag von ASPHER?

Wir können als ASPHER natürlich nicht den Nahostkonflikt lösen. Uns ist es aber ein großes Anliegen, dass wir über den Konflikt reden können, ohne uns völlig zu zerstreiten. Auch innerhalb unseres Netzwerkes haben wir ganz unterschiedliche Positionen, Vorgeschichten und kommen aus verschiedenen Ländern. Wir möchten zum Beispiel zu Statements zur Kriegssituation gelangen, die wir gemeinsam tragen können. Mit allen Mitgliedern, auch denen aus Israel und Palästina.

Diese Statements sind immer ein Kompromiss und daher kritisierbar – und sie werden von den Ereignissen überholt. Der Weg zu den Statements ist aber wichtiger als das Produkt: Wir zeigen, dass wir über den Konflikt reden und uns einigen können. Was wir in diesem Prozess gelernt haben, möchten wir auch in unsere Lehre einfließen lassen.

In einem gemeinsamen Statement vom Dezember 2023 verurteilen die ASPHER-Mitglieder die Angriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und jede Art von Entmenschlichung. Sie unterstützen Israels Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung „innerhalb der Grenzen des humanitären Völkerrechts“, das bei der „Zerstörung Gazas, insbesondere von Krankenhäusern und ziviler Infrastruktur“ massiv verletzt wird. Das gesamte Statement in englischer Sprache ist hier zu lesen.


Über das ASPHER-Netzwerk publizieren die Gesundheitswissenschaftler*innen derzeit zur katastrophalen gesundheitlichen Lage der Bevölkerung in Gaza durch die unterbrochene Wasserversorgung sowie zur Situation der Kinder in Gaza und Israel.

Was planen Sie für Ihre Lehre?

Es ist notorisch schwierig, über den Nahostkonflikt zu sprechen. Das sehen und erleben wir in der aktuellen medialen Debatte und bei kulturellen Veranstaltungen. Mir fällt auf, dass Studierende oftmals entmutigt sind, überhaupt noch über das Thema zu sprechen, aus Angst etwas Falsches zu sagen. An der Universität müssen wir aber in der Lage sein und bleiben, über kontroverse Themen zu sprechen – mit gegenseitigem Respekt und ohne in extreme Positionen zu verfallen. Im April planen wir eine Lehrveranstaltung mit Kolleg*innen des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und der Fakultät für Erziehungswissenschaft dazu, wie wir mit Konflikten umgehen können. Es geht auch um die Frage, was der Unterschied zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik an der Regierung Israels ist. Ziel ist, die Studierenden in die Lage zu versetzen, über den Nahostkonflikt sprechen zu können. Dafür schalten wir auch Kolleg*innen aus Israel und Palästina via Zoom zu uns ins Seminar in Bielefeld. Auch Dr. Martin Auerbach wird bei den Lehrveranstaltungen in Bielefeld dabei sein: Er ist Psychotherapeut aus Israel und leistet unter anderem psychotherapeutische Unterstützung für Holocaust-Überlebende, deren Nachkommen und Betroffene kollektiver Gewalt. Mit ihm möchten wir dazu sprechen, wie Traumata aufgearbeitet werden können. Über den konkreten Bezug zu Israel-Palästina hinaus zeigt das: Wir möchten unsere Studierenden und später Absolvent*innen vermitteln, konstruktiv mit Konflikten umgehen zu können – das muss der Anspruch von Public Health sein.

Weitere Informationen

Die von Oliver Razum geleitete Task Force on War and Public Health innerhalb des ASPHER-Netzwerks hat auch Stellungnahmen zum Ukraine-Krieg veröffentlicht.