Individualisierung ist allgegenwärtig. Wir beobachten sie bei gesellschaftlichen Trends, personalisierter Medizin oder der Anpassung von Tieren an ihre Umwelt. Im Forschungsverbund „Individualisation in Changing Environments“ (Individualisierung in sich ändernden UmWelten, InChangE) untersuchen die Universität Bielefeld und die Universität Münster die Ursachen, Mechanismen und Folgen der Individualisierung in sich verändernden Umwelten. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit umfasst Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften, einschließlich Biologie, Philosophie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie, Geoinformatik, Psychiatrie und Gesundheitswissenschaften. Die Liste der Teilnehmenden ist lang und ihre Fachgebiete könnten unterschiedlicher nicht sein. Aber genau darin liegt die Chance, sagt Dr. Olena Orlova, angewandte Mathematikerin in der Forschungsgruppe Theoretische Biologie an der Fakultät für Biologie in Bielefeld und Postdoktorandin bei InChangE.
„Dieser Ansatz birgt Möglichkeiten, denn die Wissenschaft wird immer komplexer und praktische Probleme nicht mehr nur Domäne einer einzigen Disziplin. Sie erfordern Zusammenarbeit, um angemessen angegangen zu werden“, sagt Olena Orlova. Sie ist eine von zehn Postdoktorand*innen bei InChangE. Die Stipendien wurden eingerichtet, um exzellente Wissenschaftler*innen zu fördern, die am Anfang ihrer unabhängigen Forschungskarriere stehen, und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Forschung auf dem interdisziplinären Gebiet der Individualisierungswissenschaft voranzutreiben.
© Mike-Dennis Müller
Die Kräfte bündeln
Forscher*innen schließen sich zusammen, um Fragen nach den Ursachen und dem Verlauf der Individualisierung nachzugehen. Auch untersuchen sie, ob diese Prozesse in verschiedenen Disziplinen in ähnlicher Weise beobachtbar sind. Sie analysieren die Folgen von Individualisierungsprozessen und versuchen, die damit verbundenen Risiken und Chancen zu bewerten. Professorin Dr. Meike Wittmann, Leiterin der Forschungsgruppe Theoretische Biologie und Teil des InChangE-Forschungskonsortiums, beschreibt eines der Ziele des Projekts: „Die universitätsübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht es uns, unsere Stärken zu bündeln. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit hilft uns, über den Tellerrand zu schauen, voneinander zu lernen und zu erforschen, wie Ideen von einer Disziplin auf die andere übertragen werden können.“
Olena Orlova erklärt: „Individualisierung findet in einem sich verändernden Umfeld statt, in dem die Interaktion zwischen Einzelnen und der Umwelt eine Schlüsselrolle spielt. Individualisierung kann nicht isoliert geschehen. Es ist eine Wechselbeziehung.“ Orlova ist angewandte Mathematikerin mit wirtschaftswissenschaftlichem Hintergrund, die sich in letzter Zeit verstärkt mit der Biologie befasst. Damit ist sie im Projekt dafür verantwortlich, die Perspektiven der Ökonomie und der Biologie auf Individualisierungsprozesse zusammenzubringen. Dazu verwendet sie individualbasierte Modelle (IBMs). „Im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Prognosemethoden sind IBMs besser geeignet, die Komplexität realer Probleme abzubilden, weil sie mehr Flexibilität erlauben und individuelle Unterschiede nuancierter berücksichtigen können.“
© Mike-Dennis Müller
Der Borkenkäfer als Forschungsobjekt
Konkret untersuchen die Forschenden von InChangE, wie sich Tiere an ihre Umwelt anpassen können – indem sie ihr Aussehen verändern, indem sie ihre Umgebung verändern, zum Beispiel durch den Bau eines Nestes, oder indem sie auf die Suche nach einer anderen Umgebung gehen, wie es Bienen bei der Suche nach Blüten tun. Biolog*innen nennen dies die individualisierten Nischenmechanismen – die Interaktionsmechanismen zwischen einem Individuum und den relevanten Umweltfaktoren. „In meiner Forschung versuche ich zum Beispiel, dieses Konzept auf die Ökonomie zu übertragen und zu sehen, inwieweit der Begriff der ökologischen Nische mit dem der Marktnische in der Ökonomie übereinstimmt und ob die Interaktionsmechanismen zwischen Individuum und Umwelt in ökonomischen Kontexten zu einer ähnlichen Dynamik führen“, sagt Olena Orlova.
Der Borkenkäfer ist ein weiteres Forschungsobjekt, das sowohl die Biologie als auch die Ökonomie auf den Plan ruft. Das Insekt stellt in den europäischen Wäldern ein großes Problem dar, was zum Teil auf den Klimawandel zurückzuführen ist. „Zusammen mit einer Gruppe von Biolog*innen und Ökonom*innen arbeite ich daran, herauszufinden, wie man ein Waldstück vor Borkenkäferbefall schützen und es gleichzeitig bestmöglich bewirtschaften kann“, erklärt Orlova. Zu den kooperierenden Kolleg*innen gehören auch Forschende aus dem Projekt “Value of Information” (Informationswerte). Um optimale Bewirtschaftungspläne für die Waldwirtschaft zu modellieren, müssen sie und ihre Kolleg*innen sowohl biologische als auch wirtschaftliche Parameter angeben.
Ein Teil des Modells erfordert also eine realistische Darstellung der Dynamik des Waldwachstums und des Verhaltens der Borkenkäfer – der biologische Teil. Ein anderer Teil des Modells muss die wirtschaftlichen Motive von Förster*innen berücksichtigen und wie sich diese auf ihr Verhalten auswirken – ob sie zum Beispiel Bäume fällen oder Pheromon-Fallen einsetzen. „In diesem Studiensystem gibt es viele mögliche Dimensionen der Individualisierung – seien es individuelle Unterschiede zwischen Borkenkäfern oder ungleichmäßige Waldstrukturen. Eines unserer Ziele ist es, zu verstehen, welche davon einen wirklichen Unterschied machen.“
© Sarah Jonek
Politische Entscheidungsträger*innen könnten profitieren
Die verschiedenen Disziplinen tragen dazu bei, das Bild zu vervollständigen. Meike Wittmann sieht die Forschung deshalb als Beitrag zum Naturschutz: „Wir hoffen, dass wir mit unserem interdisziplinären Modellierungsprojekt einen kleinen Schritt vorwärts machen können, um bessere Managementstrategien für Borkenkäfer zu finden.“
Orlova sieht politische Entscheidungsträger*innen als weitere Nutznießende: „Denken wir an die Individualisierung von Menschen und die damit verbundenen Grenzen – es bedarf immer eines Kompromisses zwischen dem Individuum und dem Sozialen, schließlich ist jede*r Teil des sozialen Umfelds von jemand anderem.“ Ihr besonderes Interesse gilt deshalb den Rückkopplungen zwischen Individuum und Umwelt und der Einbeziehung beider Einflüsse in einem Modell: „Wir können den Einfluss der Umwelt auf das Individuum untersuchen und umgekehrt, aber wir werden nur dann ein vollständiges Bild erhalten, wenn wir alles in ein Modell einbeziehen“, sagt sie. Nur dann könne es möglich sein zu sehen, wie der gesamte Mechanismus funktioniert. „Und das könnte uns helfen, bessere politische Empfehlungen abzugeben.“