Für Professor Dr. Olaf Kaltmeier ist Lateinamerika nicht bloß ein Forschungsfeld. Den Historiker verbinden ganz persönliche Momente mit dem Kontinent. Kaltmeier erklärt: „Während hierzulande eine Forschungsarbeit mit der Publikation abgeschlossen ist, kann ich bei der Arbeit mit indigenen Gemeinschaften keine externe Beobachterposition einnehmen.“ 2006 etwa habe er in Ecuador geforscht und wurde zum Padrino, zum Paten, als Teil eines rituellen Verwandtschaftssystems ernannt. „Meine Familie und ich haben noch immer Kontakt dorthin“, sagt Kaltmeier. Dies sei möglich, wenn Partner nicht als reine Informant*innen angesehen würden, sondern als Menschen.
Der Historiker ist Lateinamerika-Experte. Als Professor für Iberoamerikanische Geschichte an der Universität Bielefeld und Direktor des Maria-Sibylla-Merian-Center for Advanced Latin American Studies (CALAS) forscht er zu Latein- und Interamerikanischer Geschichte, sozialen Bewegungen, Ethnizität im historischen Wandel und Umweltgeschichte. Erst im April ist sein neuestes Projekt „Turning Land into Capital“ mit 1,6 Millionen Euro von der Volkswagen-Stiftung gefördert worden. Kaltmeier und ein internationales Team von Forschenden gehen darin der Bedeutung von Land in der Reproduktion von Reichtum auf den Grund.
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Landbesitz ist gleichbedeutend mit Wohlstand
In Lateinamerika ist der Besitz von Land gleichbedeutend mit Wohlstand. Zugleich ist der Kontinent weltweit die Region mit der größten Ungleichverteilung von Land. „Die Spaltung zwischen arm und reich war weltweit noch nie so groß, in Lateinamerika sprechen wir sogar von einer Phase der Refeudalisierung“, sagt Kaltmeier. Ein Prozent von supergroßen Betrieben in Lateinamerika verfügte laut einer Oxfam-Studie im Jahr 2017 über genauso viel Land wie die restlichen 99 Prozent. „Gleichzeitig wissen wir zu wenig darüber, wie diese neuen landbesitzenden Eliten funktionieren und kulturell ‚ticken‘.“ Hier wollen der Forscher aus Deutschland und seine Kolleg*innen aus Lateinamerika und der Schweiz eine Leerstelle füllen.
Auffällig ist der interdisziplinäre Zugriff bei Kaltmeiers Themen: geografische Gegebenheiten, Sozialwissenschaften, Anthropologie und geschichtliche Ansätze gehören dazu. Der Umweltaspekt nimmt in seiner Forschung einen besonderen Stellenwert ein: „Ich habe mich früh mit Umweltthemen beschäftigt, schon in meiner Diplomarbeit über Agrarkolonisation in Bolivien. Die globale Umweltkrise erfordert diese Auseinandersetzung mit Umweltfragen.“ Bei seiner Arbeit im CALAS fokussiert sich Kaltmeier auf das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen: „Umweltgerechtigkeit und soziale Ungleichheit sind im Anthropozän unmittelbar verbunden“, sagt der Historiker: „Dieser Debattenstrang wird aber in Lateinamerika bislang stärker bearbeitet als etwa in den USA oder Europa.“
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Grenzen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sind fließender
Überhaupt seien die Grenzen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in Lateinamerika fließender. Dort vollziehe sich immer wieder eine für Europa ungewohnte politische Positionierung: „Viele Wissenschaftler*innen sehen sich stärker in der öffentlichen Debatte stehend und greifen auch ein.“ Elfenbeinturm? Fehlanzeige. „Im Gegenteil“, sagt Kaltmeier, „durch die nicht übersehbaren und tiefgreifenden Probleme ihrer Heimatländer sind Kolleg*innen gezwungen, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen.“ Dies schaffe eine andere Debattenkultur. Auch Berührungsängste zu anderen Formen der Wissensproduktion – ob aus indigenen Gemeinschaften, aus sozialen Bewegungen und NGOs – würden „im Sinne einer Ökologie des Wissens“ als wertvolle Wissensbestandteile angenommen. „Die Akademia wird nicht als einzige Instanz der Wissensproduktion gesehen, sondern ist deutlich dialogischer ausgerichtet und zeigt sich in der Sozialisierung der Wissenschaftler*innen. Viele Kolleg*innen sind in NGOs als Berater tätig. Das gehört zum Selbstverständnis dazu.“
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Sprachbarriere verhindert oft Wahrnehmung von Forschungsdiskursen
Kaltmeier ist deshalb überzeugt: „Ich glaube, wir können viel von Lateinamerika lernen. Vor allem, wenn es darum geht, die dringenden Zukunftsfragen zu lösen.“ Jedoch fehle oft die Wahrnehmung von Forschungsdiskursen in Lateinamerika, was vor allem an der Sprachbarriere zwischen der hier in Europa vornehmlich englischen und der spanischsprachigen Wissenslandschaft liege. Aktuell werde dort intensiv über die zukünftige Ernährungssicherung debattiert. „Die wird in Lateinamerika zum Großteil durch Kleinbauern sichergestellt. Im Sinne dieser agroökologischen Diskussion können wir davon einiges mitnehmen.“ Auch die historisch geprägte soziale Ungerechtigkeit aus dem aktuellen Projekt „Turning Land into Capital“ in Lateinamerika diene als anschauliches Beispiel für Europa: „Wir steuern hier nämlich zunehmend auf Ungleichheiten zu. Wir können uns also ansehen, was es bedeutet, wenn die Gesellschaft so stark gespalten ist.“
Ganz besonders schätzt Kaltmeier den positiven Umgang mit Interkulturalität in vielen lateinamerikanischen Ländern. „Wir in Westeuropa sehen uns als Wiege der Demokratie und Inklusion, wo Interkulturalität stark gelebt wird. In Lateinamerika aber ist man viel weiter, was Diversität und Anerkennung unterschiedlicher Gruppen angeht.“ Das geschehe sogar in einem verfassungsmäßigen Rahmen. „Das ist eine gelebte – natürlich auch nicht konfliktfreie – aber im staatlichen Selbstverständnis geprägte Form von Interkulturalität“, sagt Kaltmeier: „Davon können wir uns etwas abschauen, auch im Hinblick auf die noch sehr angespannte Debatte um Migration und Inklusion.“
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