1,6 Millionen Euro für Bielefelder Forschung


Autor*in: Ludmilla Ostermann

Lateinamerika ist weltweit die Region mit der größten Ungleichverteilung von Land. Das Projekt „Turning Land into Capital“ geht der Bedeutung von Land in der Reproduktion von Reichtum auf den Grund. Unter Leitung der Universität Bielefeld erforschen Universitäten in Bern, Puebla, Quilmes und Quito, wie das Ungleichgewicht historisch gewachsen ist und heute erneut vorangetrieben wird. Die Volkswagenstiftung fördert das auf vier Jahre angelegte Projekt mit 1,6 Millionen Euro.

Ein Prozent von supergroßen Betrieben in Lateinamerika verfügte laut einer Oxfam-Studie im Jahr 2017 über genauso viel Land wie die restlichen 99 Prozent. „Die Spaltung zwischen arm und reich war weltweit noch nie so groß. Wir erleben eine Phase der Refeudalisierung“, erklärt Professor Dr. Olaf Kaltmeier, Sprecher des Projekts, die Ausgangsposition der Forschungsarbeit. „Gleichzeitig wissen wir zu wenig darüber, wie diese neuen landbesitzenden Eliten funktionieren und kulturell ‚ticken‘.“ Dank der Förderung durch die Volkswagenstiftung soll diese Leerstelle nun gefüllt werden.

Professor Dr. Olaf Kaltmeier vor einem Bücherregal.
Professor Dr. Olaf Kaltmeier ist Sprecher des Projekts „Turning Land into Capital“.

Das interdisziplinäre und internationale Team konzentriert sich auf zwei historische Transformationsphasen von Land: Die Zeit zwischen 1860 und 1929, die geprägt war vom sogenannten „Landgrabbing“ durch die Europäer, der Ausbeutung von Großgrundbesitz und Plantagen, dem Kautschukboom im Amazonasgebiet. „Es war eine Phase extremen Reichtums, wie wir ihn auch heutzutage wieder vorfinden“, sagt Historiker Kaltmeier. In der zweiten Phase von den 1980er Jahren bis heute fand eine verstärkte Privatisierung und Exportorientierung statt. Der Boom von Sojabohnen und Biodiesel sowie die Nachfrage nach Rindfleisch beanspruchte große Flächen. Die Abholzung von Urwäldern war die Folge. Und auch hier finden sich feudale Konnotationen, wenn in der argentinischen und brasilianischen Presse von „Sojabaronen“ die Rede ist.

Kartelle spielen immer größere Rolle beim Landbesitz

Um dem Habitus, dem Wertesystem und der Lebenseinstellung dieser neuen Eliten im Vergleich mit denen der ersten Phase auf den Grund zu gehen, untersuchen die Forscher*innen in den kommenden vier Jahren unter anderem Tagebucheinträge, Konsumverhalten und Formen der Mobilität. „Die Dichte privater Helikopter ist nirgendwo so hoch wie um São Paolo“, sagt Kaltmeier. Das Team hofft darauf, auch Interviews mit Akteur*innen selbst führen zu können. Die Finanzierung durch die Volkswagenstiftung, die das Projekt im Profilbereich Gesellschaftliche Transformation bewilligt hat, könne hier als Türöffner fungieren.

Schließlich interessiert die Wissenschaftler*innen, welche politischen Konstellationen den Hyperreichtum begünstigen, aber auch, wie das Landkapital in politisches Kapital umgewandelt wird. „Hier sprechen wir dann auch von Formen der Beeinflussung“, erklärt Kaltmeier. Besonderes Augenmerk soll kriminellen Kartellen zukommen. Sie bauten derzeit ihren Einfluss in Lateinamerika aus, ihre Mitglieder zählten längst zur neuen reichen Elite. Kaltmeier: „Landkonzentration passiert nicht mehr nur im legalen Rahmen. Ein Großteil der Avocado- und Limetten-Produktion ist in der Hand von Kartellen, der Staat hat hier sein Gewaltmonopol verloren.“

Auswirkungen auf die Natur

Aufgrund des multidimensionalen Charakters von „Turning Land into Capital“ spielen auch die ökologische Transformation und ihre Folgen eine Rolle. Verbunden mit dem Besitz großer Flächen von Land sind massive Veränderungen in der Natur. Das sei eine weitere Parallele der beiden Untersuchungszeiträume: Ökologisches Kapital werde sich angeeignet, ohne die ökologische Verantwortung zu übernehmen. Die Abholzung im Amazonasgebiet führt aktuell dazu, dass dieser einstige CO2-Speicher mittlerweile mehr Kohlenstoff abgibt als bindet. „Wir hinterfragen, wie dies heute gesellschaftlich legitimiert wird und ob auch im 19. Jahrhundert die Begründungsmechanismen dieselben waren“, sagt Kaltmeier.

Den Netzwerk-Charakter des Projekts sieht der Historiker als klaren Vorteil. „Wenn wir eine so große Region wie Lateinamerika betrachten wollen, müssen wir mit verschiedenen Partnern zusammenarbeiten“, sagt Kaltmeier. Mit den drei Standorten Quilmes (Argentinien), Quito (Ecuador) und Puebla (Mexiko) sowie Rio de Janeiro (Brasilien) als assoziiertem Partner sei der Bereich gut abgedeckt. Ziel sei es, eine breite, übergreifende Debatte in Gang zu bringen, die hier durch die Universitäten Bern und Bielefeld eine Brücke nach Europa schlägt. „Wir betrachten Lateinamerika nicht isoliert, sondern in Verflechtung mit der Welt. Der Bayer-Konzern etwa ist nach dem Kauf von Monsanto ein großer Player, der verbunden ist mit dieser Form von Landbesitz, die wir untersuchen.“