Die Behandlung chronischer Krankheiten ist komplex, gerade wenn Menschen mehrfach erkrankt sind – und das ist in einer älter werdenden Gesellschaft immer häufiger der Fall. Professorin Christiane Muth will Ärzt*innen schon im Studium besser auf die Herausforderungen vorbereiten und die hausärztliche Versorgung stärken.
Asthma, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenkverschleiß oder Depressionen – die Liste chronischer Leiden ist lang, und mit zunehmendem Lebensalter steigt die Wahrscheinlichkeit, nicht nur eine, sondern mehrere chronische Krankheiten zu haben. In Deutschland gilt bereits rund die Hälfte der 50-Jährigen als mehrfach chronisch krank, bei den 80-Jährigen sind es etwa 80 Prozent, verdeutlicht Professorin Dr. med. Christiane Muth von der Medizinischen Fakultät OWL der Universität Bielefeld die Relevanz des Themas, das in einer alternden Gesellschaft immer wichtiger wird – und für Hausärzt*innen schon heute eine zentrale Rolle spielt. Denn je länger eine Krankheit dauert, desto länger muss sie auch behandelt werden. „Betroffene gehen häufiger zu Ärzt*innen und haben einen intensiveren Betreuungsbedarf“, sagt die Internistin. „Neun von zehn Konsultationen in einer hausärztlichen Praxis entfallen auf mehrfach erkrankte Patient*innen. Das heißt: Das ist das Kerngeschäft, und das muss sich auch in Forschung und Lehre widerspiegeln.“
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Über Organ- und Fachgrenzen hinweg
Die Medizinische Fakultät OWL hat ihr Forschungsprofil auf Medizin für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen ausgerichtet. Ein Schwerpunkt des Medizinstudiengangs liegt in der ambulanten Medizin – chronische Erkrankungen stehen ab dem ersten Semester im Fokus. Christiane Muth, die sich vor allem mit chronischen Mehrfacherkrankungen (Multimorbidität) beschäftigt und die Arbeitsgruppe Allgemein- und Familienmedizin leitet, will angehende Ärzt*innen früh für die Vielschichtigkeit des Themas sensibilisieren. Sie will Studierenden bewusst machen, dass erlerntes, theoretisches Wissen bei der Behandlung mehrfach Erkrankter immer wieder kritisch hinterfragt und auf den Einzelfall übertragen werden muss. „Es geht darum, das Denken über die Organ- und Fachgrenzen hinaus zu entwickeln und zu verknüpfen“, sagt sie. Denn Multimorbidität sprengt diese Grenzen.
Mehrfach chronisch krank zu sein heißt, dass nicht nur Verdauungsorgane oder das Herz betroffen sind. Es bedeutet auch, dass Krankheiten sich untereinander beeinflussen können, dass Betroffene oft mehrere Medikamente einnehmen und es zu riskanten Wechselwirkungen kommen kann. Meistens sind mehrere Fach*ärztinnen und Teams in die Behandlung involviert, die Empfehlungen für ihr jeweiliges Spezialgebiet so abstimmen müssen, dass sie nicht mit anderen Therapien kollidieren. „Das alles im Blick zu haben, ist herausfordernd“, stellt Christiane Muth fest und sieht Hausärzt*innen in einer Schlüsselposition, um die Kooperation der Akteur*innen zu koordinieren. „Wir sehen, dass Menschen häufig darunter leiden, dass Kliniken, Fach- und Hausärzt*innen nicht gut miteinander kommunizieren.“ Dabei wäre ein gutes Zusammenspiel wichtig – um die Versorgung der Erkrankten zu verbessern, sie vor zu viel und falscher Medizin zu schützen und letztendlich das Gesundheitssystem zu entlasten und Ressourcen zielgerichteter einzusetzen. Wo Hausärzt*innen ansetzen können, damit chronisch kranke Patient*innen medizinisch umfassend versorgt werden, wird eines der Leitthemen beim ersten Tag der Allgemeinmedizin am 13. Mai an der Universität Bielefeld sein.
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Eine Frage der Abwägung
Gerade bei Multimorbidität gehe es darum, Prioritäten zu setzen und gemeinsam mit den Betroffenen auszuloten: Was hat Vorrang? Welche gesundheitlichen Ziele sind wichtig? Was kann die einzelne Person an Therapien überhaupt umsetzen, schon rein zeitlich? Statt „viel hilft viel“ kann am Ende die Erkenntnis stehen: Nicht alles was medizinisch machbar ist und in einem Fachgebiet empfohlen wird, ist im Einzelfall sinnvoll. Manchmal sei es sogar besser, nichts zu tun oder ein Medikament wegzulassen – weil etwa das Mittel gegen Herzinsuffizienz auch das Sturzrisiko erhöht. Was ist gravierender? „Für ältere Menschen kann ein Sturz fatale Folgen haben“, nennt Christiane Muth einen Punkt, der bei einer Abwägung berücksichtigt werden müsste. In einer Studie über Multimedikation mit den Universitäten Bielefeld, München und Witten/Herdecke erforscht sie derzeit problematische Arzneimittel für ältere Menschen. Die Wissenschaftler*innen wollen zeigen, dass Multimedikation optimiert werden kann, indem Hausärzt*innen und Apotheker*innen zusammenarbeiten und Nutzen und Nebenwirkungen besser bewerten.
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Wäre es da nicht hilfreich, wenn sich von vornherein vorhersagen ließe, wer ein Medikament gut verträgt und wer mit Nebenwirkungen rechnen muss? Diese Frage treibt Professor Dr. med. Tilo Grosser um, Experte für Translationale Pharmakologie, die Grundlagenforschung in die Praxis überträgt. An der Medizinischen Fakultät OWL baut der Mediziner eine Forschungsgruppe auf, die das Zusammenwirken von Stoffwechselvorgängen und Schmerzmitteln untersucht. Schmerzmittel werden z.B. bei Arthrose, chronischen Gelenk- und Rückenleiden häufig über längere Zeit eingenommen. Sie können aber auch den Blutdruck und das Risiko für einen Herzinfarkt erhöhen. Gibt es auf molekularer Ebene Faktoren, die dazu führen, dass diese Nebenwirkungen bei einer Person eher auftreten als bei einer anderen? Was macht den Unterschied aus? Grosser untersucht das Wechselspiel zwischen Medikamentenwirkung und individuellen biologischen Eigenschaften, wie genetische Ausstattung, Immunsystem, das Mikrobiom des Darms. Der Wissenschaftler will die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen besser verstehen und so Therapien sicherer und wirksamer machen, weil sie präziser auf den einzelnen Menschen zugeschnitten werden können. „In der Onkologie ist diese personalisierte Medizin schon weit fortgeschritten. Das wollen wir auch bei chronischen Erkrankungen erreichen.“
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Forschungsbedarf gibt es noch an vielen Stellen. So arbeitet Christiane Muth in einem Projekt daran, medizinische Leitlinien weiterzuentwickeln und dabei Faktoren wie Multimorbidität, Geschlecht, Alter oder Migrationshintergrund zu berücksichtigen. Denn in klinischen Studien sind Personen mit Multimorbidität und Ältere meistens ausgeschlossen. Auch Disease-Management-Programme, also strukturierte Behandlungsprogramme für einzelne chronische Erkrankungen, müssten unter dem Aspekt der Multimorbidität überarbeitet werden, fordert Muth. „Wir können nicht länger ausblenden, dass Patient*innen zunehmend mehrere Erkrankungen haben.“
Der Aspekt der Teilhabe
Gerade weil chronische Erkrankungen nicht heilbar sind, ist eine gute und angemessene Behandlung umso wichtiger, um Beschwerden zu lindern, Autonomie und Lebensqualität zu erhalten – kurz: um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. „Dieser Gesichtspunkt ist in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend wichtiger geworden“, ergänzt Professor Martin Driessen, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Evangelischen Klinikum Bethel, die zum Universitätsklinikum OWL gehört.
Die Weltgesundheitsorganisation hat ein Modell entwickelt, das erklärt, wie chronisch gestörte Körperstrukturen oder -funktionen bestimmte Aktivitäten beeinträchtigen und damit die Teilhabe am beruflichen, sozialen und kulturellen Leben vermindern kann. Das Modell zeigt diesen Zusammenhang auch für chronisch psychische Funktionsstörungen. In Forschungsprojekten widmen Martin Driessen und sein Team sich den Effekten auf Teilhabe. So untersuchen sie in einem Projekt, wie sich Fahrtüchtigkeit – häufig Voraussetzung für Teilhabe – bestimmen lässt. In einer weiteren Studie befassen sie sich damit, wie bei chronisch Kranken eine berufliche Wiedereingliederung statt Frühverrentung gelingen kann. Martin Driessen: „Eine wichtige Frage, die uns außerdem beschäftigt: Sind es tatsächlich alleine die Krankheitssymptome oder sind es vermittelnde Faktoren wie Erinnerungsvermögen, Aufmerksamkeit und andere neurokognitive Funktionen eines Menschen, die über eine gelingende Teilhabe entscheiden?“