Michael Johannfunke

Der Lösungssucher


Autor*in: Elena Berz

Zum Interview mit Michael Johannfunke im Hauptgebäude der Universität Bielefeld lasse ich mich von UniMaps leiten. Die App wurde in der Zentralen Anlaufstelle Barrierefrei (ZAB) von und mit Studierenden entwickelt und dient der barrierefreien Navigation auf dem Campus. Es lässt sich einstellen, ob etwa Treppen oder Menschenmengen gemieden werden sollen, und führt so ganz individuell an den gewünschten Bestimmungsort. Am Büro des ZAB-Koordinators Johannfunke angekommen, erscheint auf meinem Handydisplay „Ziel erreicht!“. Das Ziel, das Michael Johannfunke gemeinsam mit seinem neunköpfigen Team verfolgt, ist zwar näher gerückt, nämlich die Uni zu einem möglichst barrierefreien Ort zu machen, an dem Bildung für alle zugänglich ist – gänzlich erreicht ist es aber noch nicht.

Als Michael Johannfunke vor zwanzig Jahren begann, an der Universität Bielefeld Naturwissenschaftliche Informatik zu studieren, war das Behindertengleichstellungsgesetz gerade mal ein Jahr alt. Zwar sollte dadurch die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen verhindert oder beseitigt und deren gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gewährleistet werden, doch für Studierende mit Behinderung gab es damals an der Uni kaum Angebote oder Unterstützung. Dass sich das in den letzten Jahren geändert hat, ist auch – vielleicht sogar: vor allem – Johannfunkes Verdienst. Er selbst sagt: „Ich bin da so reingerutscht.“ Gänzlich unvertraut war ihm die Thematik allerdings nicht, als er 2014 zur Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen gewählt wurde. Auf die Nachfrage, ob er selbst betroffen sei, erzählt Johannfunke offen von seiner hochgradigen Sehbehinderung, davon, dass seine Partnerin blind ist und zwei der fünf Kinder ebenfalls eine Behinderung haben.

Michael Johannfunke
Michael Johannfunke hat die ZAB zur ersten Anlaufstelle für Studierende und Beschäftigte mit Behinderung, chronischer oder psychischer Erkrankung aufgebaut. Neben der Beratung bietet die ZAB unter anderem ein Peer Mentoring für Studienanfänger*innen, Fortbildungen sowie für Lehrende das Angebot, Materialien auf Barrierefreiheit zu überprüfen.

Dass der 39-Jährige selbst wenig Schwierigkeiten damit hatte, sein Diplomstudium erfolgreich abzuschließen und anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter im CoR-Lab und am CITEC zu arbeiten, mag auch an seiner Art liegen, Problemen zu begegnen: Er macht nicht den Eindruck, als hielte er sich lange damit auf, zu überlegen, was alles nicht geht. Stattdessen sucht er nach Lösungen, packt es an, macht Dinge möglich. So wie 2017, als Johannfunke erkannte, dass „die damaligen Beauftragten für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung zwar die Beratung sicherstellten, darüber hinaus aber wenig Zeit hatten, die Themen ‚Teilhabe‘ und ‚Barrierefreiheit‘ zu stärken.“ Zudem sei die Hemmschwelle, zur Schwerbehindertenvertretung zu gehen, recht hoch.

Problem erkannt, Problem gebannt? Mit der Gründung der AG Barrierefreiheit vor sechs Jahren, die sich dann schnell zur Zentralen Anlaufstelle Barrierefrei (ZAB) weiterentwickelte, hat Michael Johannfunke auf jeden Fall etwas in Bewegung gesetzt. Das Resultat: „Die Uni ist hinsichtlich der Barrierefreiheit immer besser aufgestellt, aber es gibt auch noch viel zu tun. Die ZAB war als niedrigschwellige Anlaufstelle gedacht“, sagt der Diplom-Informatiker und lächelt, als er fortfährt: „Die Idee ist aufgegangen, es kommen immer mehr Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung zu uns.“ Der Bedarf ist auf jeden Fall da, wie die aktuelle Studierendenbefragung der Uni Bielefeld zeigt: Dort gab jede*r Vierte selbsteinschätzend an, eine Behinderung oder chronische Krankheit zu haben, darunter auch psychische Erkrankungen. Laut der Studie ‚beeinträchtigt studieren – best2‘ des Deutschen Studentenwerks sind 96 Prozent der Erkrankungen zudem nicht auf Anhieb wahrnehmbar.

Anhand dieser Zahlen lässt sich bereits erahnen, wie komplex das Thema Barrierefreiheit ist. Es gibt viele unterschiedliche Behinderungen und Erkrankungen, die Bedürfnisse der betroffenen Menschen sind dementsprechend breit gefächert, stehen sich teilweise entgegen. „Wir reden viel von Barrierefreiheit, aber die komplette Barrierefreiheit gibt es nicht“, sagt Michael Johannfunke. Denn wenn man für eine Person Barrieren abbaue, könne es sein, dass dadurch für einen anderen Menschen Barrieren aufgebaut werden. Beispiel: Für Rollstuhlfahrer*innen sind Kanten im Alltag ein Hindernis, für blinde Menschen können sie jedoch hilfreich zur Orientierung sein.

Michael Johannfunke und Muriel Pundsack (v.l.) arbeiten am Projekt Dachs.
Gemeinsam mit Muriel Pundsack (rechts) arbeitet Michael Johannfunke am Projekt Dachs: „Mithilfe des Portals soll die Barrierefreiheit in der Lehre weiter verbessert werden, um Studierenden mit Behinderungen die gleichen Chancen und Möglichkeiten zu geben wie Studierenden ohne Behinderungen.“

Und dann sind da noch die Barrieren in vielen Köpfen, wenn es um Menschen mit Behinderungen geht. Mit denen war Michael Johannfunke in den vergangenen Jahren mehr als einmal konfrontiert. „Können die das denn überhaupt, hier studieren?“, sei so eine Frage, die er oft zu hören bekommt. „Natürlich können sie das! Man muss es halt einfach machen, es ermöglichen.“ Und das tut Johannfunke. Er sucht und schafft Lösungen, zum Beispiel mit dem Projekt Dachs, in dem ein digitales Portal zu barrierefreier Lehre entstehen soll (siehe Infokasten). Oder mit speziell ausgestatteten Arbeitsräumen: Der Theresia Degener-Raum bietet eine reizreduzierte Arbeitsumgebung. Im Louis Braille-Raum können blinde oder sehbehinderte Studierende entsprechend ausgestattete Arbeitsplätze nutzen. Mit der ZAB geht Johannfunke die Probleme eher strukturell an. Doch auch um individuelle Anliegen kümmert er sich immer wieder, denn oft sind Einzelfalllösungen gefragt.

Dachs sensibilisiert für barrierefreie Lehre

Lehrende sind verpflichtet, digitale Studienmaterialien barrierefrei zur Verfügung zu stellen. Mit Dachs (Digital Accessibility Checking and Simulation) soll ihnen ein interaktives, digitales Portal an die Hand gegeben werden, das für die Erfordernisse barrierefreier Lehre sensibilisiert und dabei hilft, Materialien so zu gestalten, dass sie für alle zugänglich sind. Seit April 2023 entwickelt die ZAB das Portal. Die Stiftung Innovation in der Hochschullehre fördert das Projekt bis 2026 mit rund 500.000 Euro.
Weitere Infos auf der Projekthomepage.

Sein Ziel ist es, die Barrieren im Kopf abzubauen. Seine Taktik: Gegenfragen zu stellen, die zum Nachdenken anregen und dazu beitragen, Falschannahmen zu entkräften und den Weg für die Teilhabe behinderter Menschen weiter zu ebnen. Sicher, auf dem Weg liegen noch einige Steine. So seien die Rechte behinderter Menschen durch diverse Gesetze zwar gestärkt worden, Bildung beispielsweise muss für alle zugänglich sein, doch gebe es bei Verstößen quasi keine Handhabe, dagegen vorzugehen. Johannfunke, der seit 2020 auch Beauftragter der Studierenden mit Behinderung und chronischer Erkrankung ist, nennt das „zahnlos“, aber es scheint ihm fernzuliegen, darüber in Negativität zu verfallen. Viel mehr hilft es der Sache doch, klarzumachen, warum Barrierefreiheit grundsätzlich positiv ist. Etwa, weil die barrierefreie Gestaltung von Lehrmaterialien deren Qualität verbessert, Schriftdolmetschen bei Veranstaltungen für alle nützlich ist oder schlicht, weil jede*r irgendwann betroffen sein kann. Nur drei Prozent der Schwerbehinderungen sind angeboren. „Barrierefreiheit ist nichts, was nur behinderte oder erkrankte Menschen angeht“, betont Michael Johannfunke. „Barrierefreiheit ist gut für alle.“

Protesttag und Veranstaltungsreihe

Trotz Gleichstellungs-, Gleichbehandlungsgesetz und UN-Behindertenrechtskonvention werden behinderte Menschen im Alltag noch immer diskriminiert. Darauf macht seit über 30 Jahren am 5. Mai der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung aufmerksam. Das diesjährige Motto lautet „Zukunft barrierefrei gestalten“.

An der Uni Bielefeld startet passend zum Protesttag am Donnerstag, 4. Mai, eine neue Veranstaltungsreihe rund um die Themen aktive Teilhabe und Barrierefreiheit in der Hochschule und weit darüber hinaus: Das ZAB-Forum Barrierefrei. Zum Auftakt liest Aktivist Raúl Krauthausen um 16 Uhr in Raum X-E0-001 (X-Gebäude) aus seinem neuen Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.“