An der Laborschule Bielefeld, der Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen an der Universität Bielefeld, erleben Kinder schon ab dem Vorschulalter Demokratie im Kleinen. Die Erfahrungen sollen anderen Schulen in Deutschland und Europa helfen, mehr Demokratie im Schulalltag zu wagen.
Es ist ein Mittwoch, zweite Stunde, der wöchentliche Gruppenrat tagt. 24 Mädchen und Jungen der Kobalt-Gruppe sitzen im Kreis und besprechen Themen, die ihnen auf den Nägeln brennen. „Gruppe“ – so heißen in der Laborschule jahrgangsgemischte Klassen. Gleich mehrfach geht es heute um das beliebte Fußballspiel in der Pause. Warum sind die Mädchen meistens in der Abwehr? Wie sorgen wir dafür, dass die Regeln besser eingehalten werden? Es wird eifrig diskutiert. Acht-, Neun- oder Zehnjährige erheben ihre Stimmen, hören einander zu, suchen nach Lösungen. Wäre eine Schiedsrichterin oder ein Schiedsrichter hilfreich? Wie kann sie oder er sich durchsetzen? „In Textil machen wir doch gerade Schärpen“, wirft ein Schüler ein. „Da können wir eine Schärpe nähen und schreiben ,Kobalt‘ drauf.“ Wer die trägt, ist Schiri. Die Idee wird angenommen.
Schule als Gesellschaft im Kleinen
Konflikte lösen, die eigene Meinung sagen – von Anfang an spielen Mitbestimmung und Partizipation eine wichtige Rolle in der Laborschule, die 1974 als erste staatliche Versuchsschule Deutschlands öffnete. Bildungsreformer Professor Dr. Hartmut von Hentig wollte eine Schule schaffen, in der Kinder zu mündigen Bürger*innen heranwachsen, konzipierte Schule als Gesellschaft im Kleinen (embryonic society), ganz in der Tradition des Pädagogen John Dewey, der in den USA um 1900 die erste Laboratory School ins Leben rief, erzählt Primarstufenleiterin Nicole Freke. Doch was ist aus den Gründungsideen geworden? Wie funktioniert Demokratieerziehung ganz praktisch an der Laborschule? Und wie lernen schon die Jüngsten demokratische Fähigkeiten?
2010 wechselte die Lehrerin an die Wissenschaftliche Einrichtung Laborschule an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld, um mit Kolleg*innen und Wissenschaftler*innen genau diese Fragen zu ergründen. Fünf Jahre, bis 2019, leitete Freke das Forschungsprojekt. Die Erkenntnisse fließen in die Praxis zurück und werden im Schulalltag umgesetzt. „Dadurch hat das Demokratiethema an der Laborschule noch einmal deutlich an Fahrt gewonnen“, fasst Erziehungswissenschaftler Dr. Christian Timo Zenke zusammen, der seit Herbst 2019 das internationale Folgeprojekt „LabSchoolsEurope“ an der Universität Bielefeld weiterführt.
Demokratie braucht Struktur
So wurden zum Beispiel schon in der Primarstufe regelmäßig tagende Gruppenräte und Schüler*innenparlamente eingeführt. Demokratie kommt nicht von alleine. Es braucht feste Strukturen und Gremien, wo sich alle Kinder gehört fühlen und ihre Anliegen besprechen können – das ist ein Fazit von Nicole Freke und Christian Timo Zenke. Und es braucht klare, definierte Rechte und Zuständigkeiten, die im Detail in einer 26 Seiten starken „Verfassung der Primarstufe der Laborschule“ festgelegt wurden – für Nicole Freke die Basis der Demokratiearbeit. „Dafür haben wir im Kollegium intensiv beraten: Wo geben wir als Lehrer*innen Macht ab? Wo bleibt die Entscheidung bei den Erwachsenen? Was sollen die Schüler*innen mitbestimmen?“ Die Beteiligung der Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen ist ein verbrieftes Grundrecht, das ernst genommen werde, betont Freke. „Kinder sollen im Schulalltag erfahren: Ich kann etwas bewegen.“ Etwa einen Veggie-Tag in der Mensa durchsetzen, für mehr Klimaschutz demonstrieren oder über Unterrichtsinhalte abstimmen.
Klar, solche demokratischen Prozesse machen Arbeit, brauchen Zeit und Vertrauen. Christian Timo Zenke ist aber überzeugt: „Wenn Kinder mitentscheiden können, fühlen sie sich verantwortlich für ihre Schule und kümmern sich um gemeinsame Angelegenheiten, die ihren Alltag betreffen.“ So lernen junge Menschen, mündige Mitglieder in der Schulgemeinschaft zu sein und erwerben Kompetenzen für das Leben in der großen Gesellschaft.
Im Parlament die Interessen der Gruppe vertreten
Im Parlament der Schüler*innen geht es zum Beispiel um Sauberkeit, Ärger mit den Schließfächern und andere Angelegenheiten aus dem Schulalltag. Lehrer Jan Wilhelm Dieckmann, der das Gremium in den Jahrgangsstufen 3 bis 5 begleitet, fragt an manchen Stellen nach, erinnert an Dinge, die vergessen wurden. Die Kinder behutsam begleiten, aber nicht sofort eingreifen – das ist die Devise von Dieckmann, der einen Leitfaden zur Parlamentsarbeit in der Primarstufe entwickelt und 2021 veröffentlicht hat, um anderen Schulen Mut zu machen, demokratische Strukturen schon in der Grundschule einzuführen.
„Ab Jahrgangsstufe 5 sind Schüler*innenvertretungen im Schulgesetz verankert. Für die Grundschulen gibt es das nicht. Wir haben es dennoch gemacht und es funktioniert. Diese Erfahrungen, die wissenschaftlich begleitet worden sind, wollen wir teilen und auch in den englischsprachigen Raum bringen“, sagt Dieckmann, der im Projekt „LabSchoolsEurope“ mitwirkt. Seine Botschaft: Kinder wachsen an dieser Aufgabe. „Wenn sie ermuntert werden, aktiv mitzuentscheiden, gehen sie verantwortungsvoll damit um und lernen, sich als Teil der Gesellschaft zu verstehen.“ Zu erfahren: Ich kann mitbestimmen, und zwar nicht nur bei „popeligen“ Sachen, wie es eine Schülerin formulierte, das mache stark.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Aktualisierung eines Artikels aus BI.research – Forschungsmagazin der Universität Bielefeld, Ausgabe 50 (2020).