Medikamente, die für einzelne Patient*innen entwickelt werden, Autoversicherungen, die auf den Fahrstil zugeschnitten sind, oder Einbrecher*innen, die schon vor der Tat ertappt werden: Große Datenmengen und bessere Algorithmen sorgen dafür, dass Vorhersagen genauer und individueller werden. Welche Auswirkungen das auf die Gesellschaft hat, untersucht die Bielefelder Soziologieprofessorin Dr. Elena Esposito. Ihr Forschungsprojekt „Predict“ fördert der Europäische Forschungsrat mit einem ERC Advanced Grant.
Polizist*innen, die zukünftige Verbrechen vorhersagen können: Das klingt wie die Handlung des Science-Fiction-Thrillers „Minority Report“. Tom Cruise jagt darin Mörder*innen, bevor sie ihren Mord begehen können. Die Realität ist von solch einem Szenario gar nicht so weit entfernt – schon jetzt nutzt die Polizei Computerprogramme, um zum Beispiel Einbrüche zu verhindern. „Predictive Policing“, auf Deutsch etwa „vorausschauende Polizeiarbeit“, soll über große Datenmengen und komplexe Algorithmen Straftaten möglichst genau voraussagen können.
Ähnliche Entwicklungen gibt es im Versicherungswesen und in der Medizin. Auch hier sorgen mehr Daten und bessere Algorithmen dafür, dass Vorhersagen genauer und individueller werden. Autoversicherungen bieten zum Beispiel Tarife an, die sich aus gesammelten Daten zum Fahrstil errechnen, und die Krebsmedizin verspricht Behandlungsmethoden, die auf Patient*innen mit bestimmten genetischen Eigenschaften zugeschnitten sind.
Voraussagen für einzelne Personen
„Unsicherheiten, die bei solchen Voraussagen zunehmend verschwinden, spielen in unserer Gesellschaft aber noch eine wichtige Rolle“, sagt Professorin Dr. Elena Esposito von der Fakultät für Soziologie. In ihrem Forschungsprojekt „Predict“ untersucht sie, welche sozialen Auswirkungen Vorhersagen haben, die mit Datenmengen und Algorithmen getroffen werden. Der Europäische Forschungsrat ERC fördert das Projekt.
„In der Vergangenheit hat unsere Gesellschaft Mechanismen entwickelt, mit einer ungewissen Zukunft umzugehen. Zum Beispiel in der Medizin: Dort wird in klinischen Studien ermittelt, welche Therapie im Durchschnitt die größte Heilungschance hat“, so Esposito. Solche Vorhersagen basieren auf Häufigkeiten innerhalb einer repräsentativen Gruppe. Aus diesen werden Wahrscheinlichkeiten für viele Menschen abgeleitet, also unsichere Prognosen, die aber alle bis zu einem gewissen Grad betreffen. Das Ziel von personalisiertem Versicherungswesen, Präzisionsmedizin und vorausschauender Polizeiarbeit ist hingegen, für einzelne Personen Vorhersagen zu machen – darüber, ob sie einen Unfall bauen, krank werden oder eine Straftat begehen.
Drei unterschiedliche Aspekte
„Sowohl in der Forschung als auch in der Praxis gewinnen algorithmische Vorhersagen an Bedeutung. Gleichzeitig ist die soziale Dimension dieser Entwicklung noch nicht ausreichend erforscht worden“, sagt Esposito. Sie beschäftigt sich mit drei unterschiedlichen Aspekten algorithmischer Vorhersagen: Individualisierung, Generalisierung und Verzerrung.
Individualisierung untersucht sie am Beispiel des personalisierten Versicherungswesens: Werden durch individuelle Versicherungen bestimmte Personengruppen benachteiligt, etwa wenn Menschen, die größeren Risiken ausgesetzt sind, plötzlich zu viel zahlen müssen? Welches Interesse besteht überhaupt noch daran, eine Versicherung zu kaufen oder zu verkaufen, wenn man schon weiß, wie groß der zukünftige Schaden sein wird?
„Generalisierung spielt vor allem in der Präzisionsmedizin eine Rolle, weil sich die Entwicklung der Algorithmen auf Trainingsdaten stützt. Lassen sich diese Algorithmen auf Fälle anwenden, in denen vielleicht Daten eine Rolle spielen, die man vorher nicht im Blick hatte?“, so Esposito. Am Beispiel der vorausschauenden Polizeiarbeit untersucht sie schließlich den Aspekt der Verzerrung: Wenn die existierenden Daten verzerrt sind, etwa weil Menschen bestimmter ethnischer Gruppen häufiger festgenommen werden, verstärken sich diese Verzerrungen dann durch den Algorithmus?
In allen drei Bereichen nimmt Esposito zudem das Zusammenspiel von herkömmlichen probabilistischen Methoden, die Zukunft vorauszusagen, und neuen, algorithmischen Varianten in den Blick – auch weil derzeit noch beide angewendet werden.
Luhmanns Systemtheorie nutzen
„Ausgehend von den einzelnen Bereichen untersuche ich Auswirkungen auf das gesamte System Gesellschaft. Dafür nutze ich Luhmanns Systemtheorie“, sagt Esposito. Sie ist eine der führenden Vertreter*innen der soziologischen Systemtheorie. Der Bielefelder Soziologieprofessor Niklas Luhmann war ihr Doktorvater, als sie 1990 promovierte. Seit 2016 ist Esposito an der Universität Bielefeld Professorin für Soziologie und ihre interdisziplinäre Vernetzung, parallel ist sie an der Università di Modena e Reggio Emilia in Italien tätig.
Für ihr Forschungsprojekt „Predict“ hat Esposito den ERC Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, ERC) erhalten. Dieser fördert exzellente, bereits etablierte Wissenschaftler*innen. Die Förderung beträgt 2,1 Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren. Offiziell beginnt das Projekt im Februar 2020, aber schon im vergangenen Jahr liefen erste Forschungen, vor allem zu Präzisionsmedizin und personalisierter Versicherung.
Dieser Artikel ist eine Veröffentlichung aus „BI.research“, dem Forschungsmagazin der Universität Bielefeld. Die aktuelle Ausgabe des Magazins erschien im November 2019.