Ein Semester fehlte. So lange hätte Ahin Hassaf an der Universität Aleppo in Syrien noch studieren müssen, um ihren Bachelor in Anglistik zu machen. Der Studienabschluss war also nicht mehr fern, doch auch der Krieg rückte näher und so floh Hassaf Anfang 2016 mit ihren Eltern und Zwillingsschwestern nach Deutschland. Hier muss die heute 29-Jährige quasi bei null anfangen: eine fremde Sprache lernen, sich in einem unbekannten Land zurechtfinden, das Studium nochmal von vorn beginnen, weil ihre Studienleistungen aus Syrien größtenteils nicht anerkannt werden. Doch davon hat sie sich nicht unterkriegen lassen.
Was es allerdings bedeutet, all dies vor dem Hintergrund einer Flucht zu meistern, lässt sich höchstens erahnen. Sprechen möchte Hassaf darüber nicht gern, nur so viel erzählt sie: „Wir waren lange zu Fuß unterwegs, zweimal wurden wir in Griechenland festgenommen und zurück in die Türkei geschickt.“ Nach ungefähr einem Monat hat es die Familie geschafft. Die Erinnerungen an die Flucht und die erste Zeit in Deutschland sind verschwommen – „wie die Stadt hieß, in der wir angekommen sind, weiß ich nicht mehr genau“, sagt die Syrerin und lächelt entschuldigend. Anschließend verbringen sie mehrere Monate in Bad Oeynhausen, dann ein Dreivierteljahr in einem Heim für Geflüchtete in Herford. Dort wohnt Ahin Hassaf mit ihrer Familie noch heute, mittlerweile in einer Wohnung.
Zur Uni nach Bielefeld pendelt die 29-Jährige – inzwischen. Denn, so schiebt sie, nach ihrem Studienfach gefragt, gleich hinterher: „Es ist mein erstes Semester in Präsenz.“ Begonnen hat Hassaf ihr Studium mitten in der Corona-Pandemie, im Winter 2020. „Im ersten Semester war es schon schwierig“, gesteht sie. „Vor allem, weil ich allein war und in den Online-Veranstaltungen keine Kommilitoninnen kennenlernte, mit denen ich mich hätte austauschen können.“ Den Start erleichtert haben ihr PunktUm, das Deutschlernzentrum an der Universität Bielefeld, und die Mitarbeitenden des International Office. Dort habe sie von Anfang an Hilfe bekommen – sei es bei der Stundenplanerstellung oder in Form einer Schreibberatung. Auch für ihre Lehrkräfte und weitere Institutionen wie das BITS findet die Studentin nur lobende Worte:
Hier studiert sie Grundschullehramt mit dem Schwerpunkt Anglistik. „In Syrien wollte ich nicht Lehrerin werden“, erinnert sich Hassaf. „Damals war das Studium für mich ein Mittel, um eine bunte Zukunft zu haben, um einen Job zu bekommen, der es mir ermöglicht, als Frau selbstständig und unabhängig zu sein.“ Nach ihrer Flucht beginnt die Syrerin vor vier Jahren einen Deutschkurs an der Universität Bielefeld, nimmt am Orientierungsstudium NaWiOs für internationale Studierende teil und stellt fest: Sie möchte gern mit Kindern arbeiten. Deshalb entscheidet sie sich bei ihrem Neustart in Bielefeld für das Lehramtsstudium. „Das Leben überrascht uns“, sagt Ahin Hassaf und lacht. Ihr Berufswunsch hat sich geändert, aber das grundlegende Ziel von damals ist gleichgeblieben: Das Studium abzuschließen und eine Arbeit zu finden, die ihr Selbstständigkeit garantiert.
Bereits jetzt, während des Studiums, ermöglicht das NRWege-Stipendium ihr ein Stück Unabhängigkeit. Erfahren hat sie davon über NaWiOs. „Das Stipendium ist eine Erleichterung für mich“, so Hassaf. „Und zwar nicht nur finanziell, sondern auch emotional.“ Denn die Stipendiat*innen erhalten nicht nur monetäre Unterstützung, ebenso sind Gruppentreffen und Angebote zur sprachlichen Begleitung Teil des Programms. „Für Nicht-Muttersprachler*innen ist es manchmal schwierig, sich zu orientieren und Kontakte zu knüpfen. Dabei ist das Stipendium hilfreich.“
Die deutsche Sprache zu lernen, war für Hassaf herausfordernd. „Deutsch ist für mich eine sehr schwierige Sprache“, gibt sie mit weichem Akzent zu und auch, dass sie vor dem Interview nervös gewesen sei, weil sie nach wie vor Angst hat, beim Sprechen Fehler zu machen. Zwar schleicht sich hier und da tatsächlich ein schiefes Wort ein, doch dass das eigentlich kein Anlass zur Sorge sein muss, drückt Ahin Hassaf dann selbst fast poetisch aus: „Sprachen sind wie Ozeane. Es gibt immer noch mehr, was man lernen kann.“ Und das tut sie: „Ich versuche stetig, die Sprache zu verbessern.“
Ob sie, wenn möglich, irgendwann nach Syrien zurück möchte? Ahin Hassaf zögert, dann sagt sie: „Eigentlich wünsche ich mir schon, irgendwann in mein Heimatland zurückzukehren, aber ich habe in den letzten Jahren auch festgestellt, dass Heimat etwas ist, das in mir liegt. So ist die Uni für mich auch Heimat. Das Gefühl von Sicherheit zu haben, dass ich hier in Frieden leben kann, bedeutet für mich ebenfalls eine Art von Heimat.“ Und wer weiß? Vielleicht gewinnt die gebürtige Syrerin noch ein Stück davon hinzu, wenn sie schließlich in Bielefeld ihr Studium beenden und so ihren Traum, ein selbstständiges Leben zu führen, verwirklichen kann.