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„Wir sind immer noch inmitten der Geschichte“


Text: Jörg Heeren

Der ukrainische Schriftsteller und Wissenschaftler Dr. Ostap Slyvynsky ist zu Gast an der Universität. An diesem Donnerstag, 10. Juli, um 18 Uhr hält er im Historischen Museum seinen öffentlichen Vortrag „Ukraine 2022-2025: Warum ist Kultur in schlechten Zeiten wichtig?“ im Historischen Museum. 3 Fragen an Ostap Slyvynsky.

Ihr Projekt „A Ukrainian Dictionary of War“ (Ein ukrainisches Wörterbuch des Krieges) dokumentiert Kriegserfahrungen. Wie verbinden Sie in darin poetisches Einfühlungsvermögen mit wissenschaftlicher Methodik?

Ich würde sagen, dass es von Anfang an keine Methodik für die Arbeit an „Dictionary“ gab. Es gab nur das Bauchgefühl: Ich war Zeuge von etwas Außergewöhnlichem, und ich durfte kein einziges Detail, keine einzige Geschichte verpassen. Jede Person, jeder Monolog erschien mir extrem wichtig, und ich versuchte, sie mir zu merken, um sie später aufzuschreiben. Das war natürlich unmöglich. Deshalb blieben nur Fragmente in meinem Gedächtnis, aus denen sich das Buch zusammensetzt. Ich denke, diese Fragmentierung trägt auch zu einem gewissen literarischen, poetischen Wert von „Dictionary“ bei. Aber es war keine bewusste Strategie. Genauso, wie die Gespräche mit den Menschen keine Interviews waren. Dafür gab es keinen Plan, keine Vorbereitung. Wie konnte man sich auf das vorbereiten, was wir im Februar 2022 erlebten? Erst später, bei der Analyse meiner Arbeit zwischen Februar und April 2022, bemerkte ich bestimmte psychologische und sprachliche Muster – der Wissenschaftler in mir wurde „eingeschaltet“. Ich habe sogar versucht, diese Beobachtungen im vergangenen Jahr in einem Vortrag im Pinchuk Art Center in Kiew weiterzugeben.

Bild von Dr Ostap Slyvynsky
Der ukrainische Schriftsteller und Wissenschaftler Dr. Ostap Slyvynsky ist Gastwissenschaftler an der Universität.

In Ihrem Vortrag am 10. Juli im Historischen Museum Bielefeld sprechen Sie über wichtige Aufgaben der Kultur in schwierigen Zeiten – welche zum Beispiel?

Ich versuche, die vier wichtigsten Aufgaben der Kultur in Kriegszeiten, in Zeiten historischer Herausforderungen, zu skizzieren: Aufbau und Unterstützung des Gemeinschaftssinns, Überwindung des Schweigens, Hilfe bei der Wiederherstellung der Gerechtigkeit, Erinnerung an die wahren Werte. Darüber denke ich nun schon seit drei Jahren nach und beobachte die ukrainische Kultur. Ich denke, dass die Kulturen aller Gesellschaften, die historische Herausforderungen durchlaufen, mehr oder weniger ähnlich funktionieren.

Sie wirken bei Seminaren an der Universität Bielefeld zu sehr unterschiedlichen Themen mit, von historischer Vorstellungskraft bis hin zur lokalen Geschichte der Nazizeit. Was erwarten Sie von diesem Austausch mit deutschen Studierenden und Kollegen?

Ich freue mich sehr, mit wunderbaren Kollegen der Universität Bielefeld, der Fakultät [Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie; Anmerkung der Redaktion] und den Studierenden zusammenzuarbeiten, um über diese sehr unterschiedlichen Themen nachzudenken. Wie verändert sich unser Blick auf die Vergangenheit, je nachdem, wo wir uns gerade befinden? Schließlich haben wir keine ‚reine‘ Optik, wir sind immer noch inmitten der Geschichte. Wissen Sie, manchmal fühle ich mich unwohl, wenn ich daran denke, dass künftige Generationen, die hoffentlich wieder in Frieden leben werden, mit so viel Mitleid und Herablassung auf uns blicken werden: Die Armen, sie hatten so ein Pech, in einer solchen Zeit geboren zu werden… Wir haben uns das nicht ausgesucht, aber wir können zumindest den größten Nutzen daraus ziehen und ein sinnvolles Zeugnis ablegen. Der gemeinsame Blick aus Deutschland und der Ukraine kann nicht nur ein Trost sein: Wir sind nicht allein. Sie hilft auch zu verstehen, was unsere Werte heute sind, unser gemeinsames Haus – Europa.

Auch Lyriklesung geplant

Neben seiner Mitwirkung an Universitätsseminaren wird Slyvynsky eine Lyriklesung für den Lesekreis der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft Bielefeld halten. Der 1978 in Lemberg geborene Autor ist außerordentlicher Professor an der Ukrainischen Katholischen Universität, ein preisgekrönter Übersetzer und seit 2022 Vizepräsident des PEN Ukraine.