Lange konzentrierte sich die Erforschung des Holocausts auf die Gruppen Täter*innen und Opfer. Was dabei wenig Beachtung fand, war die Rolle der „Bystanders“, also die vermeintlich unbeteiligte, zuschauende Mehrheit der Bevölkerung. Um diese Lücke zu schließen, erforscht ein Team aus Zeithistoriker*innen die Vielzahl der Bystanding-Perspektiven – die Zwischentöne – anhand einer internationalen Sammlung von Tagebüchern als Ego-Dokumente. Leiterin des Projekts ist die Bielefelder Professorin Dr. Christina Morina. Für die Forschung kooperieren Wissenschaftler*innen der Universität Bielefeld und der Jagiellonen-Universität Krakau. Im Interview spricht Christina Morina über die Forschung ihrer Projektgruppe.
Die Holocaust-Forschung hat sich lange mit Täter*innen und mit Opfern befasst. Welche Chancen bietet der Begriff Bystanding?
Der Begriff fokussiert auf die Mehrheitsgesellschaft – also jene, die weder eindeutig zu den Täter*innen noch Opfern zu zählen sind. Bystanding beschreibt die vielfältigen Positionen und Verhaltensweisen, die das Gewaltgeschehen beeinflussten, welche konkreten und wandelbaren Rollen Menschen in der nationalsozialistischen Gesellschaft einnahmen. Er fasst aber auch die Gesellschaft als größeres soziales Gefüge, in dem Massengewalt, Genozid, Massenverfolgung entstehen und verfestigt wurden. Im Englischen sprechen wir nicht mehr vom Bystander als Typus, sondern vom Bystanding als Prozess, als sehr vielschichtige und wechselhafte Beziehungsgeschichte zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen. Das hilft uns zu untersuchen, wie gewaltsame Politik gesellschaftliche Realität werden konnte. Damit sind wir Teil der jüngeren Holocaust-Forschung, die den Holocaust zunehmend als sozialen Prozess betrachtet – also nicht nur als politisches oder militärisches, sondern als interpersonales und soziales Geschehen.
Ihre Quellengrundlage sind Ego-Dokumente, persönliche Selbstzeugnisse der breiten Gesellschaft. In diesem Fall forschen Sie mit Tagebüchern. Was ist daran besonders?
Tagebücher sind zutiefst subjektive Zeugnisse individueller Reflexionen über das Selbst und die Welt und das Selbst in der Welt, es sind also nicht nur Selbstzeugnisse, sondern zugleich auch soziale Quellen, sie spiegeln das Umfeld ihrer Verfasser*innen. Menschen nutzen sie oft, um belastende Erfahrungen psychisch zu bewältigen. Gerade die Tagebücher von Opfern berichten daher oft unmittelbar von und über Gewalt. Und auch Menschen, die nicht unmittelbar von Verfolgung betroffen waren, reflektierten in ihren Tagebüchern über das, was sich an Gewalt abspielte.
Das ermöglicht uns, zu ergründen, wie sich systemische Gewalt entwickelte und wie sie wirkte – sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene als auch in direkten Beziehungen zwischen den Menschen. Tagebücher bilden nicht nur größere kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge ab. Sie vermitteln auch, wie Menschen einander begegnen, miteinander umgehen und darüber nachdenken. Deshalb können wir viele unterschiedliche Fragen an sie richten.
Das Projekt setzt sich aus verschiedenen Teilprojekten zusammen. Welche Fragen verbinden sie?
Eine zentrale Frage ist die nach der Präsenz von Antisemitismus – sowohl als Begriff in den Quellen selbst als auch als historisches Phänomen mit realen Ursachen und Konsequenzen. Der Begriff ist also als Quellenbegriff interessant, denn er ist ja im 19. Jahrhundert als Selbstbezeichnung der Judenfeind*innn entstanden, und zugleich ist es ein analytischer Fokus unserer Forschung. Besonders relevant sind daher für uns nicht nur die Tagebücher von Opfern, sondern gerade auch von „normalen“ Menschen, also nichtjüdischenr Zeitgenoss*innen, die weder ein formales Amt noch eine herausgehobene Verantwortung im damaligen Geschehen hatten. Wie spiegelt sich in deren Tagebüchern die antisemitische Gegenwart in unterschiedlichen Kontexten wider? Welche Rolle spielen dabei Vorstellungen von Gemeinschaft, von Nation, von Zugehörigkeit ein? Wie zeigen sich Selbstbilder als Volksgenoss*innen und Staatsbürger*innen auch in den besetzten Gesellschaften, in denen der Staat – infolge der deutschen Besatzung – dramatisch eingeschränkt oder gar ganz zerstört wurde? Und zuletzt: Wie nehmen die gezielter Verfolgung Ausgesetzten ihre nicht verfolgten Mitmenschen wahr?
Sie analysieren in Ihrem Teilprojekt, wie sich das Dasein bei der Verfolgung und Ermordung von Jüd*innen in jüdischen und nichtjüdischen Tagebüchern aus Deutschland und den Niederlanden widerspiegelt. Können Sie schon Zwischenergebnisse nennen?
In meinem Projekt vergleiche ich die deutsche Gesellschaft der 1930er- und 1940er-Jahre mit der niederländischen. Die Niederlande hatten schon in den 1920er-Jahren eine eigene nationalsozialistische Bewegung und während der deutschen Besatzung eine der höchsten Verfolgungs- und Ermordungsraten in Europa. Die Art und Weise, wie sich Niederländer*innen als Angehörige einer Nation und eines Staatswesens betrachteten – und wie sie sich entsprechend dazu ihren jüdischen Mitbürger*innen gegenüber verhielten –, war geprägt davon, wie sie ihre eigenen Rollen in dieser Gesellschaft sahen, welche Verantwortlichkeiten sie verspürten und welche Wertemaßstäbe und Autoritäten sie akzeptierten. Diesen Fragen gehe ich in meiner Studie erstmals systematisch anhand von Tagebüchern nach.
Die deutsche nationalsozialistische Gemeinschaft war viel stärker von rassistischen Überlegenheitsvorstellungen und gesellschaftlich breit akzeptierten und staatlich propagierten Gemeinschaftsvorstellungen einer schicksalhaft geplagten und unter Hitlers Herrschaft nun befreiten oder wieder aufgerichteten „Volksgenossenschaft“ geprägt. Das war nicht nur eine Propagandaformel, sondern ein für die Mehrheit der Bevölkerung sehr attraktives und wirksames politisches Programm. Darin war die Frage, wie man sich Jüd*innen gegenüber positioniert, zentral, weil es für das Regime – Stichwort „jüdische Weltverschwörung“ – die zentrale Frage war. Das spiegelt sich auch in einer Reihe von Tagebüchern wider, die ich bislang analysiert habe, wenn auch oft eher versteckt und zwischen den Zeilen, als offen antisemitisch, was eine besondere methodische Sorgfalt erfordert. Der große systemische Unterschied ist, dass der Nationalsozialismus in Deutschland Staatspolitik werden konnte. Sein Aufstieg hatte eine gesellschaftliche Grundlage, während er in den Niederlanden eine Minderheitsbewegung war, die in den 1930er-Jahren von demokratischen Kräften erfolgreich bekämpft werden und erst durch die Besatzung Deutschlands wieder Einfluss gewinnen konnte.

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Im Vergleich der Tagebücher zeigen sich also vor der deutschen Besatzung große Unterschiede in der Wahrnehmung von Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen, aber zugleich waren antisemitische und antijüdische Grundeinstellungen beidseitig vorhanden, da sie einer jahrhundertealten europäischen Tradition entsprangen. Das hat entscheidenden Einfluss auf die Frage nach dem, was als richtig und falsch in einer Gesellschaft angesehen wird, wer dazu gehört und wer nicht, wer Anspruch auf den Schutz des Staates hat und wer nicht. Darauf antworteten beide Gesellschaften teils vergleichbar entlang einer jüdisch-nichtjüdischen Linie, begründet mit einer langen und starken christlichen Tradition, teils aber auch sehr verschieden, denn die jeweils dominanten kollektiven historischen Erfahrungshorizonte und die Rolle von Staatswesen und Staatlichkeit unterschieden sich stark – und damit auch die Vorstellungen von Staatsbürgerlichkeit.
Hier sind wir aber noch Mitten in unserer Forschung, nicht zuletzt auch bezüglich der Quellengrundlage. Mein Team und ich sammeln aktuell Tagebücher aus dem Raum Bielefeld. Unser Ziel ist eine umfassende Sammlung von jeweils mindestens 50 jüdischen und nicht-jüdischen Tagebüchern aus acht Ländern aufzubauen – aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Italien, Polen, Frankreich, der Schweiz, dem Vereinigten Königreich und den USA.
Wechseln wir in die Gegenwart. Sie sind gerade als Gastprofessorin an der New School for Social Research in New York. Wie nehmen Sie den aktuellen erinnerungskulturellen Diskurs aus der Ferne wahr – gerade hinsichtlich des Bystanding-Begriffs?
Die Diskussion über den Umgang mit der NS-Vergangenheit ist aktuell unglaublich polarisiert. Mein Projekt zielt darauf ab, sowohl die Geschichte der Mehrheitsgesellschaften im und unter dem Nationalsozialismus als auch deren Nachwirkungen zu erforschen. In der Forschung wurde erst spät nach den gesellschaftlichen Grundlagen des Nationalsozialismus gefragt, nach den kulturellen und materiellen Bedingungen seiner beachtlichen Anziehungskräfte. Noch weniger ist diese kritische Perspektive gesellschaftlich verankert, wenn auch viel getan wurde in der historisch-politischen Bildung. Aber der aktuelle Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft stehen in einer bestimmten Kontinuität. Es herrscht noch immer eine stark ethnisch-kulturelle Vorstellung davon, was Deutsch ist, was letztlich der Nährboden für Nationalismus, Ausgrenzung und auch Gewalt sein kann. Diese Vorstellungen von „Deutschsein“ werden in Politik und Gesellschaft bisher nicht ausreichend dekonstruiert und problematisiert.
Hier will unser Projekt zeigen, wie diese Vorstellungen vom Selbst und von „den Anderen“ in einem bestimmten Staatswesen entstehen und verhandelt werden und welche Konsequenzen sie über das daraus folgende individuelle und politisch-institutionelle Handeln im größeren gesellschaftlichen Kontext haben. Damit wollen wir genau diese Lücken schließen und zugleich Anstöße für eine tiefergehende historisch-politische Bildung geben, die systemische Gewalt nicht als politischen Ausnahmezustand, sondern als gesellschaftliche Möglichkeit versteht, damit man ihr wirksamer und in all ihren Erscheinungsformen von der Sprache bis zur physischen Tat entgegentreten kann.
Inwiefern leistet Ihr Bystanding-Projekt einen Beitrag für eine historisch-politische Bildung, die über reine Aufklärung hinausgeht?
Es galt lange die Prämisse, dass, wenn wir nur ausreichend über den NS und den Holocaust aufklären, Rassismus und Antisemitismus irgendwann kein Problem mehr sein würden. Ich glaube, diese Annahme war ganz offensichtlich ein Trugschluss. Auch wenn es umfassende Bildungsangebote über die NS-Zeit und ihre Verbrechen gibt, führt ein historisch-kritisches Bewusstsein nicht automatisch dazu, dass Rassismus und Antisemitismus aus unserer Gesellschaft verschwinden. Warum das nicht so ist, muss gefragt werden, diese ganze Problematik sollte selbst Gegenstand interdisziplinärer Forschungen sein. Sich damit auseinanderzusetzen, um zu einer in diesem Sinne nachhaltigeren Vergegenwärtigung der NS-Geschichte zu kommen, ist für mich eine der fundamentalen Aufgaben, vor denen die historische Forschung zur Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust heute steht. Mit dem Bystanding-Projektverbund in meinem Arbeitsbereich wollen wir dazu einen substantiellen Beitrag leisten.