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Weinender Schüler auf dem Flur der Schule

„Schule soll kein Tatort, sondern Schutzort sein“


Text: Jana Haver

Dr. Marlene Kowalski ist Gender-Gastprofessorin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Sie leitet die Fachstelle „Aktiv gegen sexualisierte Gewalt“ der Diakonie Deutschland in Berlin. Ihre Themen sind Sexualität, sexualisierte Gewalt, Macht und Machtmissbrauch in Institutionen. Diese platziert sie in Lehre, Forschung und auch im wissenschaftlichen Diskurs.

Warum ist es notwendig, sich mit Gender-Studies und dem Themenfeld der sexualisierten Gewalt innerhalb der Erziehungswissenschaft zu beschäftigen?

Marlene Kowalski: Die Gender-Gastprofessur ist ein hervorragendes Instrument der Universität Bielefeld, um genderspezifische Themen in den Diskurs einzubringen und Frauen in der Wissenschaft zu stärken. Das ist gesamtgesellschaftlich betrachtet in einer Zeit des erstarkenden Rechtspopulismus, in der antifeministische und antiprogressive Diskurse immer stärker werden, extrem wichtig. Es ist ein starkes Zeichen der Universität, sich für ein Jahr den Themen sexualisierte Gewalt, Macht und Machtmissbrauch in pädagogischen Strukturen und Einrichtungen zu widmen, um die Sensibilität für das Thema zu erhöhen – denn das braucht es eigentlich interdisziplinär und flächendeckend an allen Unis.

Bislang ist das Thema sexualisierte Gewalt kein fester Bestandteil des Lehramtsstudiums. Warum sollte sich das Ihrer Meinung nach ändern?

Marlene Kowalski: Zwei Kinder pro Schulklasse sind von sexualisierter Gewalt betroffen. Das heißt, Lehrkräfte und andere pädagogische Fachkräfte kommen mit dem Thema in der Praxis in Berührung und sollten daher auch dafür sensibilisiert sein. In allen Bundesländern, auch in NRW, sind Schulen dazu verpflichtet, eigene Schutzkonzepte zu entwickeln. Das Thema ist somit schon in der Praxis präsent, aber häufig noch nicht in der Ausbildung angekommen. Diese Lücke gilt es zu schließen.

Dr. Marlene Kowalski steht an einer grünen Außenwand des Gebäude X der Universität Bielefeld
Dr. Marlene Kowalski, aktuell Gender-Gastprofessorin in Bielefeld, gibt an der Universität Seminare zu Grenzverletzungen im Lehramt und Machtformen – mit dem Ziel, diese Themen dauerhaft in der Lehre zu verankern.

Inwieweit stehen Lehrkräfte in der Verantwortung, Anzeichen von sexualisierter Gewalt zu erkennen und darauf zu reagieren?

Marlene Kowalski: Es ist eine grundpädagogische Aufgabe, sich mit dem Wohl der Kinder auseinanderzusetzen. Sexualisierte Gewalt ist eine Tat der Nähe und resultiert aus Beziehungen – im familiären Kontext, aber auch im Kontext von Institutionen. Das heißt, zum einen soll die Einrichtung selbst kein Tatort werden. Zum anderen soll Schule aber auch ein Schutzort sein. Betroffene Kinder sollen unterstützt und begleitet werden. Dafür müssen alle Lehrkräfte geschult sein und Täterstrategien oder -merkmale erkennen. Digitale Medien bieten zudem neue zusätzliche Risikofaktoren. Sei es Cybermobbing, pornografisches Bildmaterial oder Peer-Gewalt. Lehrkräfte müssen dafür geschult werden.

Wie platzieren Sie diese Themen selbst in der Lehre an der Universität Bielefeld?

Marlene Kowalski: Ich gebe während meiner Gastprofessur in Bielefeld verschiedene Seminare und Lehrveranstaltungen. Zum Beispiel zu Nähe, Distanz und Grenzverletzungen im Lehramt oder zum Thema Sexualität, Machtformen und sexualisierte Gewalt für alle Erziehungswissenschaftliche Studiengänge im Master. Unser Ziel ist es aber auch, diese Themen langfristig in der Lehre zu verankern – auch über meine Gastprofessur hinaus. Beispielsweise durch die Integration der Themen innerhalb anderer Vorlesungen.

Sie begleiten auch die Weiterentwicklung von Schutzkonzepten an den Versuchsschulen der Universität. Welche Präventionsstrategien gibt es in Bildungseinrichtungen?

Marlene Kowalski: Mein Ziel ist es, Schulen und Hochschulen als sichere Orte zu stärken. Ich begleite die Laborschule und das Oberstufenkolleg und gebe Anregungen für die Weiterentwicklung von Schutzstrukturen und Schutzkonzepten. Dafür gilt es, spezifische Risikofaktoren, wie Räume, Strukturen und Beziehungsfaktoren, auszumachen, auch gemeinsam mit den Schüler*innen. Nur wenn Schutzkonzepte mit denjenigen erarbeitet werden, an die sie sich richten, sind sie wirksam.

Im Januar befasste sich im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität ein internes Symposium der Fakultät für Erziehungswissenschaft mit Gründen für die Verdeckung von sexualisierter Gewalt. Als Rednerin gaben Sie Anregungen für Konsequenzen in Organisationen. Welche waren das?

Marlene Kowalski: Die Erziehungswissenschaft als Disziplin muss ebenfalls Verantwortung übernehmen und Aufarbeitung leisten – hinsichtlich der Netzwerke der Täter*innen, der Legitimierung von Pädosexualität und eigener blinder Flecken. Sexualisierte Gewalt wurde in den Erziehungswissenschaften verdrängt oder sogar marginalisiert. Das gilt es aufzuarbeiten. Ich erlebe den Diskus an der Universität Bielefeld als sehr progressiv, innovativ und dem Thema zugewandt. Deswegen bin ich jetzt ja auch hier. Wir wollen und müssen uns damit beschäftigen.

Dr. Marlene Kowalski steht an einer grünen Außenwand des Gebäude X der Universität Bielefeld
„Es geht nie nur um einzelne Täter*innen, sondern um Tätersysteme: Um all die Menschen, die schweigen, bagatellisieren, wegschauen.“
Dr. Marlene Kowalski

Bei Menschen, die sexuelle Gewalt ausüben, lassen sich oft typische Eigenschaften erkennen. Dazu haben Sie im Januar am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung einen Vortrag gehalten. Inwieweit spielen Macht, Autorität und Charisma eine Rolle bei sexualisierter Gewalt?

Marlene Kowalski: 80 bis 90 Prozent der Täter*innen sind männlich. Täter sind oft besonders charismatische, narzisstische Personen. Sie sind wirkmächtig, haben eine Bühnenausstrahlung und können gut mit Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig können sie die Zuwendung, die ihnen dann von Kindern entgegengebracht wird, instrumentalisieren in Form von sexualisierter Gewalt. Das sind Erkenntnisse, die sich in Studien zur katholischen und evangelischen Kirche sowie zur Reformpädagogik gezeigt haben – also in ganz unterschiedlichen Kontexten. Mit diesem Wissen sollten wir auch hinterfragen, wie anziehend unsere Strukturen für solche Menschen sind und welche Formen der Machtkontrolle es bei uns gibt. Es geht nie nur um einzelne Täter*innen, sondern um Tätersysteme: Um all die Menschen, die schweigen, bagatellisieren, wegschauen. Es muss in Institutionen wie Schulen eine Kultur geschaffen werden, in der man das ansprechen kann.

Ihre Gender-Gastprofessur geht jetzt ins zweite Semester. Was sind Ihre Pläne für die verbleibende Zeit in Bielefeld?

Marlene Kowalski: Nach dem ersten Semester in Bielefeld ziehe ich eine sehr positive Bilanz und freue mich auf das Sommersemester. Ich möchte ich die Themen weiterführen und vertiefen – sei es die Lehre, die Kooperation mit den Versuchsschulen oder der wissenschaftliche Austausch. Es wird beispielsweise eine hochschulöffentliche Ringvorlesung zum Thema Sexualität und Schutzkonzeptentwicklung am 16. Juni geben. Außerdem halte ich am 23. Juni einen Vortrag in Kooperation mit der BiSEd (Bielefeld School of Education, Anm. d. Red.) zum Thema Sexualisierte Gewalt und Digitalisierung. Ich möchte dazu beitragen, dass das Thema präsenter wird und in Zukunft mehr mitgedacht wird, denn nur mit einer erhöhten Sichtbarkeit des Themas in der Organisation kann es zu einem Wandel kommen.

Gender Gast-Professur

Dr. Marlene Kowalski ist Gender-Gastprofessorin im Studienjahr 2024/25 an der Universität Bielefeld. Die Professur ist in diesem Jahr an der Fakultät für Erziehungswissenschaft angesiedelt. Mit der Gender-Gastprofessur als „Wanderprofessur“ durch die Fakultäten und Einrichtungen setzt die Universität seit 2010 ein Zeichen für die Stärkung von genderspezifischen Inhalten in Forschung und Lehre.