Das vierte Individualisation Symposium, organisiert vom Joint Institute for Individualisation in a Changing Environment (JICE), dem Verbundprojekt InChangE und dem Transregio-Sonderforschungsbereich 212, nimmt 2025 Lebensübergänge in den Blick. Im Zentrum steht die Frage, wie Individuen – sowohl Menschen als auch Tiere – biologische, psychologische und soziale Wendepunkte erleben und bewältigen. Die Veranstaltung bringt führende Wissenschaftler*innen aus Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften am 25. März im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) an der Universität Bielefeld zusammen und eröffnet neue Perspektiven auf Individualisierung.
„Individuen sind in ständiger Veränderung – nicht nur Menschen, sondern auch Tiere. Mit diesem Symposium möchten wir neue wissenschaftliche Perspektiven aufzeigen, wie Übergangsphasen unser Leben formen und welche Mechanismen dabei eine Rolle spielen“, sagt die Bielefelder Professorin Dr. Barbara Caspers, Direktorin des JICE.
Ein Highlight des Symposiums ist der Vortrag von Dr. Barbara Natterson-Horowitz (Harvard University/UCLA). Die Kardiologin und Evolutionsbiologin untersucht, wie Erkenntnisse aus der Tierwelt helfen können, menschliche Gesundheitsprobleme besser zu verstehen – von emotionalen Schwankungen bis hin zu chronischen Erkrankungen. Ihr Vortrag „The Moody Animal: The Ancient Origins of ‚Ups and Downs‘“ („Das launische Tier: Die antiken Ursprünge von ‚Höhen und Tiefen‘“) zeigt, dass Stimmungsschwankungen keine rein menschliche Erscheinung, sondern tief in der Evolution verwurzelt sind.
Interview: „Wir befinden uns an einem spannenden Scheideweg, da sich die Bereiche Tierverhalten und Humanpsychiatrie überschneiden.“
Anlässlich ihres Vortrags im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) betont Dr. Barbara Natterson-Horowitz im Interview die tiefen biologischen Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier, insbesondere in Bezug auf Emotionen, Entwicklungsphasen und psychische Gesundheit, und plädiert für eine wissenschaftliche Perspektive, die Ähnlichkeiten statt Einzigartigkeit in den Vordergrund stellt.
Ihre Forschung hebt auffallende Ähnlichkeiten zwischen menschlichen und tierischen Gesundheitsproblemen hervor. Wie können Erkenntnisse aus der Tierwelt dazu beitragen, emotionale Schwankungen beim Menschen besser zu verstehen, wie Sie in Ihrem Vortrag „The Moody Animal“ erläutern?
Eine Fülle von Beweisen hat uns endlich dazu gebracht, die endlosen Debatten darüber zu beenden, ob Tiere Emotionen haben oder nicht. Die Anerkennung der signifikanten Übereinstimmung der affektiven also emotionalen Systeme von Menschen und anderen Tieren hat eine neue Möglichkeit geschaffen, die tierischen Ursprünge menschlicher Stimmungen – von Verzweiflung bis Freude – zu verstehen. Wir befinden uns an einem spannenden Scheideweg, da sich die Bereiche Tierverhalten und Humanpsychiatrie überschneiden. Während die Bedeutung von Stimmungen für Verhalten und Entscheidungsfindung bei anderen Spezies zunehmend aufgedeckt wird, erhalten wir auch neue Einblicke in die Ursachen menschlicher Hochs und Tiefs sowie in die Ursprünge von Depressionen, bipolaren Störungen, Angststörungen und anderen häufigen Formen menschlicher Psychopathologie.
Übergänge und Wendepunkte sind ein zentrales Thema dieses Symposiums. Haben Sie bei Ihrer Arbeit kritische Lebensphasen beobachtet, in denen Menschen und Tiere besonders vergleichbare physiologische oder psychologische Veränderungen durchlaufen?
Ein vertieftes Verständnis der tierischen Ursprünge der menschlichen Stimmungslage bietet einen dringend benötigten Einblick in die hohe Prävalenz von Depressionen, Angststörungen und Substanzmissbrauch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Seit Jahrzehnten wissen wir, dass es neurobiologische Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen gibt. Die Betrachtung der Adoleszenz bei verschiedenen Arten liefert evolutionäre Erklärungen dafür, warum diese Lebensphase so anfällig für psychische Probleme ist.
In Ihren Büchern „Zoobiquity“ und „Wildhood“ betonen Sie einen interdisziplinären Ansatz für Gesundheit und Entwicklung. Welche zentrale Erkenntnis aus Ihrer Forschung sollten Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen Ihrer Meinung nach in ihre Arbeit integrieren?
Eines meiner „Mantras“ ist, dass der Glaube an die Einzigartigkeit des Menschen wie eine wissenschaftliche Augenbinde wirkt. Unhinterfragte Annahmen über die Einzigartigkeit verschiedener Merkmale (einschließlich Stimmungen) haben Verbindungen verdeckt, die – sobald sie enthüllt werden – Erkenntnisse und Innovationen beschleunigen können. Jahrzehntelang wurden Verhaltensforscher*innen und andere Wissenschaftler*innen streng angewiesen, „Anthropomorphisierung zu vermeiden“. Doch dieser Hinweis basiert auf der stark menschzentrierten Annahme, dass die Neurobiologie des Menschen so einzigartig sei, dass jede Ähnlichkeit zwischen menschlichem und tierischem Verhalten eher auf Projektion als auf biologische Gemeinsamkeiten zurückzuführen sei.
In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch eine große und wachsende Menge an Beweisen für eine Übereinstimmung zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Verhalten und der zugrunde liegenden Neurobiologie angesammelt. Die erhaltene (konservierte) Neurobiologie von Mensch und Tier legt nahe, dass wir Anthropomorphismus nicht länger als großes wissenschaftliches Risiko betrachten sollten. Statt von Einzigartigkeit auszugehen, sollten wir zunächst von Ähnlichkeit ausgehen. Dieser Perspektivenwechsel könnte Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen helfen, Zusammenhänge zu erkennen, die zuvor durch anthropozentrische Annahmen verborgen blieben.

© Alisha Jucevic
Professor Dr. Michael H. Goldstein (Cornell University) beleuchtet mit seinem Vortrag „From Birds to Words“ („Von Vögeln zu Wörtern“) die Entwicklung von Kommunikation. Durch vergleichende Studien an Singvögeln und menschlichen Säuglingen zeigt er auf, wie soziale Interaktionen den Spracherwerb beeinflussen und welche Parallelen es zwischen Vogelgesang und menschlicher Sprache gibt.
Neben diesen Keynotes stehen weitere spannende Vorträge und Diskussionsrunden auf dem Programm. Professorin Dr. Ingela Alger (Toulouse School of Economics) erforscht, wie evolutionäre Mechanismen die Ressourcenverteilung in Familien beeinflussen. Camilla Cenni, Ph.D., (Universität Mannheim) untersucht individuelle Unterschiede im Werkzeuggebrauch bei Primaten und deren Bedeutung für die kulturelle Evolution. Dr. Maria Moiron (Universität Bielefeld) betrachtet, wie Umweltveränderungen das Verhalten von Wildtierpopulationen prägen.
Dr. Bastian Mönkediek (Universität Bielefeld) bringt eine soziologische Perspektive ein und zeigt auf, wie genetische und soziale Faktoren das individuelle Leben beeinflussen. Seine Forschung im Rahmen des Deutschen Zwillingsfamilienpanels „TwinLife“ liefert neue Erkenntnisse über soziale Ungleichheiten und deren Entwicklung im Lebensverlauf. Mönkediek betont: „Das interdisziplinäre Gespräch ist entscheidend, um Individualisierung besser zu verstehen. Indem wir bei dem Symposium Forschung zu Mensch und Tier zusammenbringen, eröffnen wir neue Möglichkeiten, um biologische, psychologische und soziale Entwicklungen ganzheitlich zu betrachten.“