Es sind bedrückende und zugleich beeindruckende Lebensgeschichten, denen Heisenberg-Professorin Dr. Daniela Schiek nachspürt. Die Soziologin beschäftigt sich mit Menschen, die ohne Eltern in Heimen oder Einrichtungen der Jugendhilfe aufgewachsen sind. Mit ihrer Arbeit will sie herausfinden, wie es ihnen gelingt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und aus eigener Kraft zu gestalten.
Seiner Familie entkommt man nicht. Das Elternhaus prägt – das sind weit verbreitete Annahmen in der Soziologie, erzählt Daniela Schiek, die sich als Wissenschaftlerin intensiv mit Lebensläufen und Generationen beschäftigt. Auch sie hat untersucht, wie sich Familienmuster fortsetzen. Wie Werte und Sichtweisen von Generation zu Generation weitergegeben werden. In ihrem letzten Projekt hat die Soziologin zum Beispiel erforscht, wie sich Armut in Familien vererbt und welche Perspektiven Menschen, die lange Sozialhilfe bezogen haben, an ihre Nachkommen weitergeben. „Dabei konnte ich natürlich nur diejenigen befragen, die noch mit am Tisch saßen.“ Was aber ist mit denen, die sich von ihren Familien losgesagt haben, um sich den Einflüssen ihres Umfeldes zu entziehen? Wie finden Menschen, die nicht in Familien aufwachsen, ihren Lebensweg? Wie entstehen Autonomie und Unabhängigkeit? Und fördern Einrichtungen der Jugendhilfe und des Wohlfahrtsstaates eine elternunabhängige Entwicklung? „Diese Fragen haben mich nicht mehr losgelassen.“
© Silke Tornede
Leidenschaft für die Forschung
Das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgesellschaft mit seinen vier Fördervarianten, vom Stipendium bis zur Professur, bietet der 45-Jährigen die Chance, dieses noch wenig erforschte Feld zu beleuchten. Als sie ihre Bewerbung schrieb, arbeitete Schiek an der Universität Hamburg als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit hoher Lehrverpflichtung. Trotzdem brachte sie die Energie auf, ihren Hut in den Ring zu werfen. Angetrieben habe sie „die große Lust, ein innovatives Forschungsprojekt anzugehen und alles, was ich kann und wissen will, zusammenzuführen.“ Dass es am Ende mit einer Professur, sozusagen dem Nonplusultra, geklappt hat und sie von der Universität Bielefeld an die Fakultät für Soziologie berufen wurde, freut die 45-Jährige umso mehr. „Es ist eine besondere Fakultät, die sehr an Forschung interessiert ist und auch meinem Vorhaben offen gegenübersteht“, sagt die gebürtige Niedersächsin, die in Bielefeld keine Unbekannte ist. 2016 hatte sie dort eine Vertretungsprofessur für Methoden der empirischen Sozialforschung mit dem Schwerpunkt qualitative Methoden, 2017 habilitierte sie sich an der Universität Bielefeld.
Im Sommer trat Daniela Schiek die Heisenberg-Professur an und legte gleich mit der Arbeit los. Der erste Schritt war ein Aufruf, um mit Betroffenen in Kontakt zu kommen. Über Schnittstellen in der Kinder- und Jugendhilfe verbreitete sie ihr Gesuch im Schneeballsystem – und erlebte einen ungeahnten Rücklauf. „Als ich die Bewerbung schrieb, habe ich gedacht, dass es sehr schwer wird, dieses Feld aufzubrechen. Aber dann hat man mir sozusagen die Bude eingerannt“, erzählt sie. In zahlreichen Vorgesprächen spürte Daniela Schiek, dass sie offenbar einen Nerv getroffen hat, dass es den Betroffenen ein großes Anliegen ist, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, sichtbar zu werden und das Vorhaben zu unterstützen.
Goldschätzen auf der Spur
Die Forschungsbedingungen durch die Heisenberg-Professur weiß sie dabei sehr zu schätzen. „Gerade solche Dunkelfelder brauchen so eine Förderung. Ich habe genügend Zeit, kann in Ruhe Spuren verfolgen und muss mich nicht zu früh auf eine Theorie festlegen, die dann vielleicht doch nicht trägt.“ Für Interviews ist die Wissenschaftlerin in ganz Deutschland unterwegs und nimmt „alles mit, was ich an Material kriegen kann.“ Bis Ende November will Daniela Schiek eine erste Erhebung abschließen und auswerten, was sich an relevanten Themen und Schwerpunkten herauskristallisiert. „Aber nach den ersten Interviews kann ich schon sagen: Es haben sich viele Dimensionen aufgetan. Da sind Goldschätze dabei.“
So zeigen diejenigen, die ihr Leben ohne familiären Rückhalt gestaltet haben, häufig eine enorme Stärke und Aufbruchsmentalität. Ich schaffe das alleine – diese Erfahrung führe zu einer Art „Empowerment“, berichtet Daniela Schiek und macht zugleich deutlich, dass sie sich auf die „Erfolgsgeschichten“ konzentriert, auf diejenigen, die nicht an den Lebensumständen zerbrochen sind – was längst nicht alle geschafft haben. „Mir geht es nicht um die gescheiterten Fälle, um das Klischee des kriminellen Heimkindes“, betont Schiek und macht deutlich: Es sind die bisher nicht untersuchten Erfolgsfälle, die sie sich anschaut. Statistisch erfasst werde diese Gruppe nicht. „Aber tendenziell wachsen mittlerweile mehr Menschen außerhalb des Elternhauses in staatlichen Einrichtungen auf.“
© Silke Tornede
Den Diskurs raus aus der Familie führen
Mit ihrer Arbeit möchte sie eine Forschungslücke füllen und den Diskurs erweitern. „Wir haben in der Soziologie in den 1990er Jahren viel über Individualisierung geredet und das Thema dann nicht mehr aufgegriffen, weil das Versprechen der Individualisierung angeblich nicht eingelöst wurde“. Stattdessen schaue die Forschung stark auf die Familie und den prägenden Einfluss in der Kindheit. „Aber was kommt von den Menschen selbst? Das möchte ich mir noch einmal anschauen und herausfinden, ob es nicht doch Institutionen gibt, die Autonomie fördern.“
Auch in die dunklen Ecken gucken
Daniela Schiek interviewt Erwachsene aus allen Altersgruppen, von Studierenden bis zu Rentner*innen. Darunter sind Menschen, die in klassischen Kinderheimen aufgewachsen sind, ebenso wie solche, die in betreuten Wohngruppen oder Jugendhilfeeinrichtungen gelebt haben. Rund drei bis vier Stunden dauert ein Interview im Durchschnitt. Zehn Gespräche hat sie bereits geführt. Vernachlässigung, Verwahrlosung, Missbrauch, Ermordung der Großeltern in Konzentrationslagern – „das sind keine leichten Fälle und keine schönen Geschichten“, sagt Schiek. „Aber das sind auch beeindruckende Personen und ich bin gespannt auf die Ergebnisse. Und es ist unser Job in der Sozialforschung, auch in die dunklen Ecken zu gucken.“