Wie entwickeln sich Tierarten evolutionär? Das sagen Wissenschaftler*innen normalerweise voraus, indem sie die Gene einer Art und die Umwelt, in der sie lebt, untersuchen. Neue Forschungsergebnisse heben jedoch einen Schlüsselfaktor hervor, der oft übersehen wird: soziale Interaktionen, bei denen die Gene anderer Individuen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Umwelt spielen, die ein Tier erlebt. Für die Studie kooperierten Forschende der Universität Bielefeld sowie der britischen Universitäten Aberdeen und Exeter. Die Studie ist heute (09.10.2024) im Fachmagazin „Evolution Letters“ veröffentlicht worden.
Die Forschenden analysierten 47 Studien, die ein breites Spektrum von Tierarten abdeckten, und stellten fest, dass diese „sozialgenetischen Effekte“ zwar für sich genommen gering sind, aber wenn viele Interaktionen auftreten, kann dies die potenzielle Evolutionsgeschwindigkeit erheblich erhöhen.
Am deutlichsten waren die Auswirkungen auf Verhaltensweisen und Fortpflanzungsmerkmale, was darauf hindeutet, dass sich diese Merkmale im Vergleich zu physischen Merkmalen wie der Körperform oder physiologischen Merkmalen wie Stoffwechselfunktionen viel schneller entwickeln könnten. Diese Entdeckung könnte die Art und Weise verändern, wie Wissenschaftler*innen über die Entwicklung bestimmter Merkmale denken. Dies gilt insbesondere mit Blick auf soziale Arten, die regelmäßig miteinander interagieren.
© Universität Bielefeld
Interaktionen formen biologische Entwicklung
„Unsere Auswertung ermöglicht eine einzigartige Perspektive auf die sozialen Interaktionen im Tierreich“, sagt Dr. Alfredo Sánchez-Tójar von der Universität Bielefeld. „Indem wir fast 200 Messwerte aus verschiedenen Studien kombinierten, konnten wir zeigen, dass diese Effekte über diverse Arten und Forschungsumgebungen hinweg übereinstimmend auftreten.“ Seine Kollegin Dr. Maria Moiron ergänzt: „Durch die Verknüpfung dieser vielen Messdaten können wir die Evolution besser verstehen, als wenn wir uns nur auf eine einzelne Studie stützen würden.“ Sánchez-Tójar und Moiron arbeiten beide in der Arbeitsgruppe Evolutionsbiologie der Universität und sind Co-Autor*innen der Studie.
Dr. David Fisher von der Universität Aberdeen, ebenfalls Co-Autor, sagt: „Die Evolution ist der grundlegende Prozess, der die biologische Vielfalt auf der Erde begründet, und deshalb müssen wir verstehen, wie sie funktioniert. Obwohl fast alle Tiere – ob sie nun in Gruppen oder allein leben – irgendwann in ihrem Leben in soziale Interaktionen verwickelt sind, wurde die Bedeutung dieser Interaktionen für die Evolution bisher nicht systematisch gemessen.“
Forschung belegt weitreichende Einflüsse
Für die Studie haben die Wissenschaftler*innen sich mit sozialen Interaktionen aller Art befasst – denn letztendlich wollten sie grundsätzlich messen, wie sehr ein Individuum von anderen beeinflusst wird.
Sie haben sich beispielsweise frühere Arbeiten angesehen, die verschiedene Tierinteraktionen untersuchten: Kämpfe bei Rindern und Feldgrillen, Picken bei Hühnern in Gefangenschaft, Interaktionen bei Brutpaaren von Vögeln, Paarungsverhalten bei Fruchtfliegen und kooperative Fortpflanzung bei Buntbarschen.
Neue Sicht auf Evolution
Laut den Autor*innen revidiert die Studie das Verständnis der Evolution, indem sie zeigt, dass soziale Interaktionen bei den meisten Tieren einen wesentlichen Beitrag zum Evolutionspotenzial leisten – vor allem wenn es um Verhaltensweisen und Fortpflanzungsmerkmale geht. Diese Erkenntnis wird nach Ansicht der Forschenden Voraussagen zur Tierentwicklung in verschiedenen Umgebungen maßgeblich beeinflussen. Das betrifft sowohl Tiere in Gefangenschaft, etwa bei der Nutzviehzucht, als auch Wildtiere, die sich an vom Menschen verursachte Umweltveränderungen anpassen müssen.
Erschienen ist die Studie in der Fachzeitschrift „Evolution Letters“. Laut dem Datendienstleister Clarivate liegt die Zeitschrift auf Platz 14 von 54 Zeitschriften in der Kategorie Evolutionsbiologie, mit einem Impact-Faktor von 3,4 (2023).