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Grenzen – Europäische und afrikanische Perspektiven


Autor*in: Universität Bielefeld

Globale Herausforderungen brauchen globale Perspektiven. Um die Vielfalt der Perspektiven in den Forschungsgruppen zu erhöhen und afrikanische Forscherinnen und Forscher sichtbarer zu machen, bietet das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld jährlich zwei Stipendien für Wissenschaftler*innen aus Afrika an: die Norbert-Elias-Stipendien, die von der VolkswagenStiftung gefördert werden. Seit Oktober arbeiten zwei Stipendiat*innen in der Forschungsgruppe “Internalizing Borders: The Social and Normative Consequences of the European Border Regime”[Internalisierung von Grenzen: Die sozialen und normativen Folgen des europäischen Grenzregimes] am ZiF: Dr. Deborah Bunmi Ojo ist Dozentin in der Abteilung für Stadt- und Regionalplanung an der Fakultät für Umweltdesign und -management der Obafemi Awolowo University in Ile Ife (Nigeria). Sie ist Stadtplanerin und forscht zu Grenzregionen und Umweltmanagement. Dr. Almamy Sylla ist Sozialanthropologe und Dozent an der Universität von Bamako in Mali. Seine Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf Zwangsmigration, Rückkehrmigration und Migrationsinfrastrukturen in Mali sowie auf Genderthemen und soziale Innovationen. Im Interview sprechen Deborah Bunmi Ojo und Almamy Sylla über ihre Forschung und die Arbeit in der interdisziplinären Forschungsgruppe.

Dr. Deborah Bunmi Ojo mit Skulturen im ZiF-Garten.
Dr. Deborah Bunmi Ojo ist Stadtplanerin und untersucht, wie die Grenzpolitik die sozialen Strukturen der Gemeinden in Nigeria beeinflusst.

Was hat Sie motiviert, Fellows der ZiF-Forschungsgruppe zu werden?

Deborah Bunmi Ojo: Als Stadtplanerin habe ich mich in meiner Forschung vor allem auf die Grenzregionen Afrikas konzentriert, insbesondere in Nigeria, wo ich lebe. Ich habe untersucht, wie die Grenzpolitik die sozialen Strukturen der Gemeinden und das Leben und die Lebensqualität der Bewohner in diesen Gebieten beeinflusst. Die besondere Grenzdynamik in dieser Region ist ein Erbe der kolonialen Grenzen, die die lokale Bevölkerung und die beteiligten Nationen weiterhin stark beeinflussen. Die Mitarbeit in der ZiF-Forschungsgruppe, die sich mit Grenzpraktiken in Europa und deren sozialen und normativen Folgen beschäftigt, ermöglichte es mir, Einblicke in den europäischen Diskurs um Grenzfragen zu gewinnen und zu verstehen, wie die europäischen Grenzregime die hiesigen Gemeinschaften prägen. Unsere Gruppe hat auch die umfangreichen Befestigungsanlagen an der polnisch-weißrussischen Grenze in Podlasie (Polen) besucht, die Nicht-EU-Bürger an der Einreise hindern sollen. Hier habe ich die harte Realität der Grenzpolitik der Europäischen Union gesehen. Dieser Besuch führte in der Gruppe zu Diskussionen über das Menschenrecht, ein Land zu verlassen, und das Recht, zu bleiben und anderswo aufgenommen zu werden. Diese Regionen übergreifende Perspektive ist für meine Forschung von entscheidender Bedeutung, da sie es mir ermöglicht, die Grenzdynamik in Afrika und Europa zu vergleichen.

Almamy Sylla: Ich arbeite zum Thema Migration und Grenzen in Mali. Auch Mali wird stark von der europäischen Grenzpolitik beeinflusst. Die Europäische Union finanziert Projekte in Mali, um Migranten davon abzuhalten, das Land in Richtung Europa zu verlassen. Meine Forschung konzentriert sich auf die Frage, wie Menschen, die nach ihrer Ausreise nach Mali zurückgeschickt wurden, mit dem Problem der Wiedereingliederung umgehen. Ich bin also daran interessiert, wie sich die europäische Grenzpolitik auf die malische Gesellschaft auswirkt. Das ist sehr nah an dem, was die Forschungsgruppe am ZiF für Europa bearbeitet. In Europa haben die Menschen in den innereuropäischen Grenzregionen starke informelle Strukturen entwickelt. Diese Strukturen sind zum Teil grenzüberschreitend und können Teil zweier oder dreier Länder sein. Die Nachbarländer teilen sich Strukturen und Räume. Die Menschen können auf beide Seiten der Grenze gehen, um ihren Alltag zu bewältigen, zum Beispiel um einzukaufen, zu arbeiten oder zur Schule zu gehen.  Das ist sehr beeindruckend. Und ich bin auch sehr daran interessiert, eine interdisziplinäre und internationale Zusammenarbeit zwischen Grenzforschern aufzubauen.

Dr. Almamy Sylla im ZiF-Garten
Dr. Almamy Sylla ist Sozialanthropologe und befasst sich mit dem Problem der Wiedereingliederung von Menschen, die nach Mali zurückgeschickt wurden.

Die Forschungsgruppe hat Forschende aus verschiedenen Bereichen zusammengebracht: Soziologie, Recht, Anthropologie, Psychologie, Geschichte, Philosophie und andere. Wie war die Erfahrung, mit einer solchen interdisziplinären Gruppe zu arbeiten?

Deborah Bunmi Ojo: Das war für mich eine bereichernde Erfahrung. Meine Arbeit ist nah an der Soziologie, aber es war das erste Mal, dass ich mit Fachleuten aus den Bereichen Recht, Geschichte und Politikwissenschaft zusammengearbeitet habe. Anfangs war das eine Herausforderung, aber es hat sich gelohnt und ein breiteres, umfassenderes und differenzierteres Verständnis der von uns untersuchten Themen ermöglicht. Mit den europäischen Grenzfragen musste ich mich erst vertraut machen und sie mit meinen Studien über afrikanische Grenzen vergleichen. Das hat meinen Horizont erheblich erweitert und mein Verständnis vertieft und ich möchte den interdisziplinären Ansatz gerne weiterverfolgen. Eines meiner neuen Forschungsprojekte untersucht die Auswirkungen der EU-Grenzpolitik auf die Familienzusammenführung und die Lebensqualität von afrikanischen akademischen Migranten in Deutschland. Dieses Projekt geht auf meine persönlichen Erfahrungen und die Herausforderungen zurück, denen ich begegnete, als meinen Kindern und meinem Ehemann das Visum verweigert wurde, um zu mir nach Deutschland zu kommen. Das hat mich sehr getroffen und mich veranlasst, diese Erfahrung in ein Forschungsprojekt zu verwandeln, um die Auswirkungen solcher Maßnahmen auf akademische Migranten aus Afrika besser zu verstehen und anzugehen. Außerdem interessiert mich der Vergleich der Grenzpraktiken in Europa und Afrika, insbesondere des Schengen-Systems und der ECOWAS (Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten). Ich möchte die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Systemen verstehen.

Almamy Sylla: Ja, nach Europa zu kommen ist für Forscher aus Afrika in der Tat immer eine Herausforderung! Was meine Forschung betrifft, so denke ich, dass Interdisziplinarität für die Migrations- und Grenzforschung zentral ist. Das sind komplexe Themen, und um sie zu analysieren, muss man sich mit vielen verschiedenen Perspektiven beschäftigen. Wir müssen uns mit den sozialen, politischen, wirtschaftlichen, anthropologischen und religiösen Dimensionen befassen, die Migration möglich oder unmöglich machen. Und wir müssen auch verschiedene Methoden und Perspektiven kombinieren. Ich denke, die Forschungsgruppe ist eine Chance, über unsere eigenen Disziplinen und Perspektiven hinauszublicken. Die Arbeit in der Gruppe hat auch meinen Blickwinkel erweitert. Ich bin es nicht gewohnt, mit historischen Daten zu arbeiten, aber der Blick auf die Geschichte macht es einfacher zu verstehen, warum Europa mit seinen Grenzen so umgeht, wie es das tut. Und es hilft auch, die afrikanischen Grenzregelungen zu verstehen und vielleicht auch zu erkennen, wie afrikanische Länder ihre Grenzen besser verwalten könnten. Theoretisch können wir uns mit ECOWAS auch frei bewegen, aber in der Realität können wir nicht ohne Pass reisen. In Europa ist das anders. Und ich bin daran interessiert, darüber nachzudenken, wie man das ändern kann.

Wie gefällt Ihnen Bielefeld?

Almamy Sylla: Bielefeld ist gleichzeitig modern und industrialisiert, grün und ruhig. Man hat den Wald und viel Grün in der Stadt und gleichzeitig eine moderne Infrastruktur, Radwege und U-Bahn. Das ist beeindruckend.

Deborah Bunmi Ojo: Ich sehe in Bielefeld viele theoretische Konzepte aus der Stadtplanung realisiert. In Nigeria gibt es zahlreichen Herausforderungen, die die Umsetzung von Plänen zur Gestaltung der Städte behindern, aber hier kann ich sehen, dass man solche Pläne umsetzen kann. Das üppige Grün der Stadt mit den vielen gepflanzten Bäumen ist ein Beispiel für erfolgreiche Stadtplanung. Das schätze ich sehr.
 

Der Soziologe, Philosoph und Dichter Norbert Elias, Schöpfer der „Theorie vom Zivilisationsprozess“, arbeitete als Permanent Fellow von 1978 bis 1984 am ZiF. Der nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten vor allem in England und später in den Niederlanden arbeitende Forscher erhielt seine erste Professur 1962 an der Universität Accra in Ghana.