Der Physiker Professor Dr. Jürgen Schnack erforscht neue Materialien für künftige Kühltechnologien. Dabei geht es um die Kühlung im Bereich supertiefer Temperaturen nah am absoluten Nullpunkt. Diese sind für ganz spezielle Anwendungen notwendig. Um seine Forschung zu diesem Thema auszubauen, hat Schnack das europaweite Promotionsnetzwerk MolCal mit initiiert. Ein erster Kühl-Kandidat mit guten Eigenschaften wurde bereits gefunden. Er könnte das Gas Helium zumindest teilweise ersetzen.
Kühlschränke kühlen unsere Lebensmittel mit Kohlenwasserstoffen, Propan zum Beispiel. Für spezielle Anwendungen, Quantentechnologien etwa, braucht es aber viel tiefere Temperaturen. Temperaturen, die dem absoluten Nullpunkt von 0 Kelvin (-273,15 Grad Celsius) nahe kommen. Mit dem Gas Helium ist so etwas möglich: Das Heliumisotop 4He kann bis 1,8 Kelvin kühlen, das sind -271,35 Grad Celsius. Und mit dem Heliumisotop 3He geht es sogar noch weiter runter, bis in den Bereich zwischen 10 und 30 Millikelvin. Genau richtig für Quantencomputer: Die brauchen solche Temperaturen, weil nur dann die benötigten Quanteneffekte auftreten.
© Patrick Pollmeier
Jürgen Schnack von der Fakultät für Physik betreut seit diesem Jahr Doktorandinnen und Doktoranden im MSCA-Netzwerk MolCal (Molecule-based magneto/electro/mechano-Calorics, auf Deutsch: Molekülbasierte magneto-/elektro-/mechano-Kalorik). Mit ihnen sucht er neue Materialien, mit denen künftige Kühltechnologien bei supertiefen Temperaturen arbeiten – und so Helium ersetzen. Warum? Zum einen steht das Gas nur in geringen Mengen zur Verfügung. 4He lässt sich zwar aus Erdgas als Spurenelement extrahieren, aber 3He ist sehr selten. Es entsteht in Atomenergieanlagen als Abfallprodukt, im Erdmantel kommt es in sehr geringer Konzentration vor. “Hinzu kommt, dass 3He schrecklich teuer ist”, so Schnack.
Mit Kristalliten zu neuer Kühltechnik
Konkret suchen der Physiker und sein Team molekülbasierte kalorische Festkörper-Materialien, das können Kristalle oder Pulver aus kleinen Kristalliten sein. Molekülbasiert bedeutet, die Festkörper bestehen aus Moleküleinheiten, die regelmäßig angeordnet sind. Kalorisch heißt, die Materialien ändern ihre Temperatur, wenn sie bestimmten Reizen ausgesetzt werden. Zum Beispiel dem Wechsel von Druck und Ausdehnung, dann sind die Materialien mechanokalorisch. Es gibt aber auch elektro- und magnetokalorische Stoffe, die auf das An- und Abschalten eines elektrischen oder magnetischen Feldes reagieren. Der magnetokalorische Effekt ist Schnacks Spezialgebiet und Hauptaugenmerk bei MolCal.
Das Projekt ist ein europäisches. Forschungsteams in Spanien, Griechenland, Schottland und Bielefeld arbeiten interdisziplinär zusammen. Die Aufgabenteilung sieht so aus: Die Chemiker in Kreta und Edinburgh synthetisieren neue Materialien, welche die Experimentalphysiker in Saragossa dann analysieren. Schnacks Gruppe übernimmt die Modellierung: „Wir sind für die Theorie zuständig. Bei uns gibt es keine Experimente und keine Substanzen, sondern nur quantenmechanische Modelle.“ Die machen etwas Entscheidendes sichtbar: die Wechselwirkungen zwischen den magnetischen Atomen beziehungsweise Ionen. „Unsere Modelle zeigen, warum ein Material bestimmte magnetische Eigenschaften besitzt. Sonst gäbe es ja nur die Beobachtungen aus den Experimenten. Wir liefern die Erklärungen dazu. Um ein Material wirklich zu verstehen, braucht es unsere Rechnungen.“
Spins sitzen an den Knotenpunkten
Diese sind eine Art Vereinfachung der komplizierten, aus Tausenden Teilchen bestehenden Materialstruktur. Alles, was nichts mit dem Magnetismus zu tun hat, wird schrittweise herausgerechnet. Bis nur noch die magnetisch wirkenden Ionen übrigbleiben, welche dann zusätzlich auf eine einzige Eigenschaft reduziert werden, ihren Spin. Der Spin ist der Eigendrehimpuls der Elektronen, auf den das magnetische Moment von Atomen zurückgeht. „Am Ende haben wir eine kleine übersichtliche geometrische Struktur – unser Modell. In dem sitzen die Spins an den Knotenpunkten, und Verbindungslinien stellen die Wechselwirkungen zwischen den Spins dar.“
Mathematisch sind solche Modelle sogenannte Hamiltonmatrixen. Bei denen gibt es ein kleines Problem: Um sie abzuspeichern, bräuchte es für größere Moleküle über 100 Terrabyte RAM. „Computer mit solchen Arbeitsspeichern gibt es nicht. Deshalb nutzen wir eine clevere mathematische Methode. Wir bestimmen die in der Matrix verborgenen magnetischen Eigenschaften annäherungsweise, ohne die Matrix auch nur einmal abzuspeichern. Das ist unsere Expertise. Wir sind die einzige Gruppe weltweit, die diese Näherungsgleichungen für so große Systeme beherrscht.“
© Patrick Pollmeier
Neues Material kühlt bis 0,4 Kelvin
Ein Kühl-Kandidat ist bei MolCal auch schon gefunden worden. Das Material hat die verkürzte chemische Formel Gd12Na6. Die Hauptbestandteile des blassgelben Kristallits sind also Gadolinium und Natrium. Das Natrium dient nur als molekulares Gerüst, magnetokalorisch entscheidend ist das Gadolinium. „Es hat ein besonders großes magnetisches Moment und deshalb oft auch einen großen magnetokalorischen Effekt“, erklärt Schnack. Dies bestätigten die Tests: Das Material funktionierte im Temperaturbereich zwischen 0,4 und 2 Kelvin sehr gut. Damit könnte es zum Beispiel im Weltraum zum Einsatz kommen, beim Forschungsprojekt LiteBIRD. Hier wird die kosmische Hintergrundstrahlung mit Satelliten erforscht. Die für die Teleskope benötigte Kühltemperatur liegt genau in dem Bereich, den Gd12Na6 abdeckt.
Helium, speziell 3He, komplett ersetzen kann Gd12Na6 jedoch nicht. Das ist auch nicht Schnacks Ziel. „Die supertiefen Temperaturen bis in den Millikelvinbereich lassen sich nicht mit einem einzigen Festkörpermaterial abdecken, das schafft nur 3He. Es ist ein kleines Kühlwunder.“ Also müssen sich künftige Materialien die Aufgabe teilen. Gd12Na6 würde im Bereich 2 bis 0,4 Kelvin kühlen. Und darüber und darunter übernähmen andere Materialien, die noch zu entdecken sind. Auch da sind Schnacks Modellierungen hilfreich: Das Verständnis der magnetischen Wechselwirkungen bei bekannten Materialien erlaubt es, zielgerichteter nach neuen zu suchen.
© Thomais G Tziotzi et al., CC-BY 4.0 *
Auch auf die Effizienz kommt es an
Ein zweiter Aspekt, der bei den künftigen Kühlmaterialien eine Rolle spielt: die Anzahl Kühlzyklen. Die Wärmemenge, die pro Prozessumlauf in die Umgebung transportiert wird, sollte möglichst groß sein. Denn eine Kühlmaschine hat Reibungsverluste – und die werden bei wenigen Zyklen minimiert. Der Faktor, der direkt damit zusammenhängt, nennt sich isotherme Entropieänderung: Ist diese groß, ist auch die abgegebene Wärmemenge pro Umlauf groß. Auch hier besitzt Gadolinium vielversprechende Eigenschaften.
* Bild des Gd-Na-Moleküls übernommen aus dieser Studie:
Thomais G. Tziotzi, David Gracia, Scott J. Dalgarno, Jürgen Schnack, Marco Evangelisti, Euan K. Brechin, Constantinos J. Milios: A {Gd12Na6} Molecular Quadruple-Wheel with a Record Magnetocaloric Effect at Low Magnetic Fields and Temperatures. Journal of the American Chemical Society, https://doi.org/10.1021/jacs.3c01610, erschienen am 3. April 2023.