Rund 350 Millionen wahlberechtigte Bürger*innen in den EU-Mitgliedsstaaten wählen vom 6. bis 9. Juni 2024 das Europäische Parlament für die kommenden fünf Jahre. In einer unruhigen Zeit mit Krisen, Kriegen und wirtschaftlichen Herausforderungen, ist die Europäische Union stärker denn je gefordert. Welchen Einfluss das Europäische Parlament auf das alltägliche Leben hat und welchen Stellenwert das Parlament in der Welt einnimmt, erklärt Europa-Experte Professor Dr. Franz Mayer von der Fakultät für Rechtswissenschaft im Interview.
Wie wichtig ist die Europawahl und welchen Einfluss hat das gewählte Parlament auf unseren Alltag?
Die Europawahl ist wichtig, weil das Europäische Parlament heute sehr wichtig ist. Das war nicht immer so. Aber mittlerweile kommen wichtige Gesetze auf europäischer Ebene fast nie ohne Zustimmung des Europäische Parlament zustande. Dass es immer noch Bereiche gibt, in denen das Europäische Parlament nicht diese wichtige Rolle hat, darf nicht verdecken, wie einzigartig das Parlament ist: Es ist das einzige überstaatliche direkt gewählte Parlament weltweit. Und weil es etwas zu sagen hat, ist auch wichtig, welche Mehrheiten sich dort finden. Und weil mittlerweile sehr viele Fragen auf europäischer Ebene geregelt sind, hat es auch spürbare Folgen im Alltag, welche Politik im Europäische Parlament gemacht wird. Da geht es beispielsweise um Fragen wie Bankenregulierung, Verbraucherschutz oder Produktsicherheit. Das betrifft jeden. Deswegen nachdrücklicher Wahlaufruf an alle ab 16: Gehen Sie wählen!
© Universität Bielefeld
Wie wichtig ist das Europäische Parlament in der internationalen Politik?
In der Europäischen Außenpolitik spielt das Europäische Parlament, wie es allgemein für Parlamente und Außenpolitik zu beobachten ist, eine nachgeordnete Rolle. Außenpolitik ist gemeinhin Regierungssache. Gleichwohl wirkt die europäische Gesetzgebung, die zum Teil ganz maßgeblich vom Europäische Parlament geprägt wird, ganz erheblich über die europäischen Grenzen hinaus. Beispiele sind die Datenschutzgrundverordnung oder andere Regeln, die die moderne digitale Welt betreffen, die zum Teil weltweite Beachtung finden und auch weltweit als Regulierung wirken.
In Zeiten, in denen immer öfter rechtskonservative Parteien in den Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten sitzen, können Rechtspopulist*innen und Rechtsextreme nach der Europawahl zur führenden politischen Kraft in Europa werden? Und was hieße das für eine Staatengemeinschaft wie die EU?
Es ist richtig, dass nach den Umfragen bei der Parlamentswahl mit einem Erstarken rechtsextremer Nationalpopulisten zu rechnen ist. Zudem sind solche Kräfte auch in immer mehr Mitgliedstaaten an der Regierung beteiligt. Das zeigt, dass das Friedensprojekt Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Europa kann sterben, wie es der französische Staatspräsident Macron kürzlich in einer Europarede an der Sorbonne formuliert hat. Europa, konkret die Europäische Union, könnte auch ein sehr hässliches Gesicht annehmen, wenn die Nationalpopulisten in den Regierungen auch die europäischen Einrichtungen und Organe dominieren würden. Zugleich ist es ja jetzt auch schon sichtbar, dass die Rechtsextremen, die Nationalisten links und rechts, nicht gut zusammenarbeiten.
Die AfD ist gerade aus ihrer bisherigen Fraktion gefeuert worden. Das ist diesen Kräften auch unauslöschlich eingeschrieben: Nationalisten können nicht wirklich mit anderen Nationalisten konstruktiv zusammenarbeiten, weil man sich ja jeweils über die anderen Nationen erhebt. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass sich eine von Nationalisten geprägte Europäische Union weitgehend selbst blockieren würde. Klar ist aber, dass die europäische Integration als Friedensidee beschädigt wird. Der seinerzeitige französische Staatspräsident Mitterrand hat bei seiner Abschiedsrede im Europäische Parlament den klaren Satz gesagt: „Le nationalisme, c’est la guerre.“ Nationalismus führt zu Krieg. Früher oder später. Und in der Ukraine kann man mit dem russischen Angriffskrieg sehen, dass diese Alternative alles andere als weit weg ist.
Einige Institutionen oder Arbeitsweisen der EU stehen seit Jahrzehnten in der Kritik, weil sie nicht demokratisch genug seien. Inwieweit ist diese Kritik berechtigt?
Wir stehen kurz vor einer Direktwahl zum einzigen überstaatlichen Parlament, das es auf der Welt gibt. Da fragt man sich schon, was der Maßstab einer Demokratiekritik ist. Aber die Rede vom Demokratiedefizit in Europa ist in der Tat eine seit längerem vorgetragene Kritik. Manches ist dabei Missverständnis, Etliches ist aus meiner Sicht meist in den konkreten Vorwürfen leicht zu widerlegen. Aber möglicherweise kommt es gar nicht so sehr darauf an, wie gut die Gegenargumente sind.
Wahrscheinlich geht es es in den modernen Massendemokratien mit vielen Millionen Menschen, deren individuelle Präferenzen nicht für jeden eins zu eins umgesetzt werden können, um eine subjektive Seite von Demokratie, um eine gefühlte Demokratie, ein Grundvertrauen darin, dass demokratische Zustände herrschen. Und das hat schon auch etwas mit Information und politischer Bildung zu tun, da sehe ich in Sachen Europa noch immer enorme Defizite aber auch eine wichtige Rolle bei den Medien, aber auch in den Schulen. Zugleich ist zu beobachten, dass dieses Grundvertrauen darin, dass man in demokratischen Zuständen lebt, ja sogar für die überkommenen politischen Systeme der Nationalstaaten schwindet. Aber auch da gilt: Man muss gegen Unwissen und Unwahrheiten ankämpfen und die Demokratie als Errungenschaft hochhalten.
Ist das Europäische Parlament auch für zukünftige Herausforderungen stabil aufgestellt?
Das Europäische Parlament ist nicht gut vorbereitet auf Kräfte, die ganz und gar nicht an Sachlösungen und Kompromiss interessiert sind. Das Parlament ist wie eigentlich die ganze Europäische Union ein Maschine zur Herstellung von Kompromissen unterschiedlichster Interessen, zwischen Staaten, zwischen großen und kleinen Mitgliedern, zwischen politischen Strömungen. Darauf, dass in großem Umfang extreme politische Kräfte mitspielen, wie die Extremen von Links und Rechts, die überhaupt gar nicht an konstruktiven Lösungen auf europäischer Ebene interessiert sind, sondern die EU vor allem maximal beschädigen wollen, darauf ist das System schlecht vorbereitet.
Die Frage kann man aber auch ausweiten auf die Frage nach der Stabilität der Europäischen Union in Krisenzeiten. Hier muss man dann aber doch festhalten: Seit dem Ausbruch der Eurokrise im Mai 2009, vor 15 Jahren reiht sich Krise an Krise: Nach der Eurokrise kam die Flüchtlingskrise, nach dieser die Corona-Krise, nach dieser die Ukraine-Krise. Und die Europäische Union ist immer noch da, entgegen aller Abgesänge. Aber die Frage ist natürlich für die Zukunft gestellt, ob die EU insgesamt auf künftige Herausforderungen vorbereitet ist. Es könnten ja bis zu zehn weitere Mitgliedstaaten hinzukommen, unter anderem die Ukraine.
Hier war letztes Jahr ein gewisses Reform-Momentum aufgekommen, ich habe selbst an einem deutsch-französischen Expertenbericht zur Reform der europäischen Institutionen mitarbeiten dürfen und daher die Reformdebatten intensiv verfolgt. Aber das ist derzeit wieder zum Erliegen gekommen, weil alle auf die Parlamentswahl warten. Auch deswegen ist der Ausgang der Wahl so wichtig, weil es ein handlungsfähiges Europa braucht. Die Weltprobleme und die Bedrohungen unserer Lebensart hier in Europa werden nicht warten. Auch deswegen: Unbedingt wählen gehen am 9. Juni.