„Individualisierung in Prävention und Therapie unerlässlich“


Autor*in: Jörg Heeren

Was ist nötig für eine Wissenschaft der Individualisierung? Einblicke dazu gaben Forschende aus Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften auf dem dritten Symposium zur Individualisierung des Instituts JICE, das von den Universitäten Bielefeld und Münster getragen wird. Ausgerichtet wurde es im Zentrum für interdisziplinäre Forschung auf dem Bielefelder Campus. Im Interview erklären die Münsteraner Sportwissenschaftlerin Professorin Dr. Claudia Voelcker-Rehage und der Bielefelder Ökonom Dr. Niels Boissonnet, was den interdisziplinären Ansatz des Instituts für ihre Forschung so wertvoll macht. Sie erklären, wie der Fokus auf Individualisierung Innovationen in ganz unterschiedlichen Bereichen ermöglicht – von der Leistungsoptimierung im Sport bis hin zu ethischen Fragen der Ressourcenverteilung.

Frau Voelcker-Rehage, was hat Sie dazu bewogen, sich mit Ihrer Forschung am JICE zu beteiligen? Was macht den JICE-Forschungsansatz für Ihre wissenschaftliche Arbeit so wertvoll?

Voelcker-Rehage: JICE verfolgt einen interdisziplinären Ansatz. Interdisziplinäre Forschung ist aus meiner Sicht sehr wertvoll, da sie uns zum Blick über den Tellerrand auffordert und damit neue Perspektiven und Forschungsansätze für die eigene Forschung aufzeigt. Der unkomplizierte und produktive Austausch mit anderen Disziplinen ist im JICE einmalig – dies gilt sowohl für den Austausch zu Forschungs- und Auswertungsmethoden als auch für Analogien, Parallelen und Gemeinsamkeiten über verschiedene Spezies hinweg.

Herr Boissonnet, Sie sind als Postdoktorand des Projekts InChangE zu JICE dazugekommen. Wie profitiert Ihre Forschung von der Einbindung ins JICE?

Niels Boissonnet: In den Sozial- und Lebenswissenschaften ist der Begriff des Individuums so grundlegend, dass er zu scheinbar unüberwindlichen Kontroversen und Missverständnissen führt. Indem JICE die Individualisierung in den Mittelpunkt stellt, bietet es einen äußerst interdisziplinären Rahmen, um diese Gegensätze nuanciert und komplex anzugehen. Die Wirtschaftswissenschaften haben kürzlich eine bedeutende Überarbeitung ihres Konzepts des Individuums eingeleitet, um es als Produkt der Umgebung zu erfassen. Zu sehen, wie andere Disziplinen dieses Problem angehen, ist äußerst bereichernd. Auch konkrete Anwendungen wie personalisierte Medizin lassen sich so besser einordnen.

Professorin Dr. Claudia Voelcker-Rehage und Dr. Niels Boissonnet unterhalten sich im Freien.
Die JICE-Forschenden Prof’in Dr. Claudia Voelcker-Rehage und Dr. Niels Boissonnet haben auf dem Symposium neue Erkenntnisse aus ihren Disziplinen vorgestellt, um interdisziplinär Impulse zur Individualisierungsforschung zu geben.

Frau Voelcker-Rehage, Sie haben auf der Konferenz über individuelle Unterschiede in der menschlichen Leistungsfähigkeit im Laufe des Lebens gesprochen. Welche Faktoren führen dazu, dass sich Menschen in ihrer Leistungsfähigkeit voneinander unterscheiden?

Voelcker-Rehage: Es gibt viele verschiedene Faktoren, die zu individuellen Leistungsunterschieden führen, etwa genetische Bedingungen, Lebenserfahrungen und -stile, Präferenzen, Wissen über die Bedeutung von Bewegung für die eigene Gesundheit, die Motivation und die Persönlichkeit. Trainingsprogramme können auf verschiedene Art und Weise auf die individuellen Unterschiede angepasst werden. Aus physiologischer Sicht geht es vor allem darum, Trainingsprogramme auf die individuelle Leistungsfähigkeit und die körperlichen Voraussetzungen anzupassen. Allerdings ist dies noch kein Garant dafür, dass ein Programm auch umgesetzt wird. Dazu gilt es auch andere individuelle Faktoren zu berücksichtigen, wie Präferenzen in der Darreichungsform – sei es digital oder nicht-digital, gamifiziert oder nicht, oder seien es bestimmte Bewegungsformen, die einzelne Personen bevorzugen und die ihnen dann im Training angeboten werden.

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„Aus physiologischer Sicht geht es vor allem darum, Trainingsprogramme auf die individuelle Leistungsfähigkeit und die körperlichen Voraussetzungen anzupassen.“
Prof’in Dr. Claudia Voelcker-Rehage

Im Sport geht es oft darum, individuelle Voraussetzungen mit gezielten Trainingsmethoden und persönlicher Betreuung zu verbinden. Inwiefern lassen sich hier Parallelen zu anderen Lebensbereichen ziehen? Welche Erkenntnisse aus Ihrem Fachgebiet haben übergreifende Bedeutung für die Individualisierungsforschung?

Voelcker-Rehage: Der Sport hat eine lange Tradition in Bezug auf Individualisierung. Das heißt, die Trainingssteuerung im Sport erfolgt in der Regel nach bestimmten Prinzipien, die die Art, Intensität, Umfang und Häufigkeit des Trainings auf die individuellen Voraussetzungen anpassen. Wir wissen mittlerweile, dass dies immer noch eine zu hoch aufgelöste Form der Individualisierung ist, da zum Beispiel physiologische Voraussetzungen, wie Geschlechtsunterschiede, nicht ausreichend berücksichtigt werden. Gleichzeitig kann diese Art der Individualisierung gut auch auf andere Bereiche übertragen werden. Individualisierung ist sowohl in der Prävention als auch der Therapie unerlässlich. Auch untersuchen wir die Bedeutung von Lebensstilfaktoren für den Alterungsprozess. Dies hat ebenfalls eine wichtige Bedeutung für Ansätze zur Individualisierung in anderen Wissenschaftsbereiche.

Herr Boissonnet, auf der Konferenz haben Sie Ihre Forschung zu einer gerechten Ressourcenverteilung unter Risikobedingungen vorgestellt. Wie lässt sich der Balanceakt zwischen Individualisierung und fairer Risikoabschätzung in der Gesellschaft bewerkstelligen?

In meiner Studie geht es darum, einen Rahmen vorzuschlagen, der es ermöglicht, eine bestimmte Regelung zur Verteilung von Reichtum und Risiken ethisch zu rechtfertigen, indem individuelle Besonderheiten berücksichtigt werden. Einige Individuen neigen eher dazu, risikoreiche Verhaltensweisen für ihren Wohlstand oder etwa ihre Gesundheit zu wählen als andere – sollten wir dies verhindern oder die Folgen korrigieren? Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Sollten wir ungesunde Lebensführung bestrafen, eine universelle Krankenversicherung vorschreiben, oder etwas dazwischen? Wenn risikoreiche Verhaltensweisen ignoriert werden, kann das zu Ungleichheiten zugunsten derjenigen führen, die mutig und glücklich waren. Das Verhindern von Risiken oder die vollständige Umverteilung ihrer Ergebnisse verletzt aber individuelle Souveränität. Als Lösungsansatz schlagen wir eine Lotteriezuteilung vor, die auf den Sicherheitsäquivalenten der Individuen basiert. Damit ist ein Geldbetrag gemeint, der einer Person sicher gegeben werden müsste, damit sie sich entscheidet, ein Risiko nicht einzugehen. Das fördert gerade in Krisenzeiten mehr Gleichheit.

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„Das Verhindern von Risiken oder die vollständige Umverteilung ihrer Ergebnisse verletzt aber individuelle Souveränität.“
Dr. Niels Boissonnet

Risikoverteilung ist ein zentrales Thema in den Wirtschaftswissenschaften. Inwiefern könnte es als Konzept mit Blick auf Individualisierungsprozesse auch für andere Fachdisziplinen aufschlussreich sein?

In meiner Untersuchung stellt sich die Frage der Risikoverteilung mit Blick auf die ethische Bewertung. Sie ist damit relevant für alle Wissenschaften mit einem normativen Ansatz, wie Philosophie und Medizin. Sie stellt sich auch den öffentlichen Entscheidungsträger*innen und den Bürger*innen im Allgemeinen, wie sich an Debatten zur Covid-19-Pandemie zeigte. Zum Beispiel wurde in vielen Ländern die Frage aufgeworfen, wie zwischen den Gesundheitsrisiken für ältere Menschen und den wirtschaftlichen Risiken für jüngere Menschen abgewogen werden soll. Ein besseres Verständnis dafür, wie Ökonomen diese Frage angehen, hätte möglicherweise zu faireren Lösungen geführt. Zudem kann die Untersuchung, wie Individuen Risiken in Gruppen teilen, aus evolutionsbiologischer Perspektive aufschlussreich sein. Ökonom*innen könnten hier helfen, die Bedingungen für sinnvolle ungleiche Risikoverteilungen festzulegen.

Ein Zentrum der Individualisierungsforschung

Das Joint Institute for Individualisation in a Changing Environment (JICE) ist ein interdisziplinäres Forschungsinstitut der Universitäten Münster und Bielefeld. JICE baut auf dem Transregio-Sonderforschungsbereich SFB/TRR 212 auf, der seit 2018 Individualisierungsphänomene in verschiedenen Disziplinen untersucht. Ergänzend dazu erforscht das vom Land NRW geförderte Verbundprojekt InChangE, das am JICE angesiedelt ist, die Auswirkungen von Individualisierung in gesellschaftlichen Kontexten wie Gesundheit und Wirtschaft. Gemeinsam wollen JICE, SFB-TRR 212 und InChangE ein umfassendes Verständnis für eine Wissenschaft der Individualisierung entwickeln und so neue Erkenntnisse für Anwendungen liefern.