Weggeworfener Mundschutz, der während der Covid-19-Pandemie in einer städtischen Straße liegt, in einem niedrigen Blickwinkel mit städtischen Gebäuden

„In der epidemiologischen Forschung haben wir noch Lücken“


Autor*in: Ludmilla Ostermann

Am 22. März 2020 ging Deutschland in den ersten Corona-Lockdown. Vier Jahre später blickt der Epidemiologe Professor Dr. med. Alexander Krämer auf die Pandemie zurück. Im Lockdown trug er dazu bei, ein Dashboard mit tagesaktuellen Datenanalysen zur Ausbreitung von Covid-19 bereitzustellen. Er hat ein Fachbuch mitherausgegeben, das unterschiedliche länderspezifische Ansätze zur Pandemiebekämpfung darstellt, bewertet und dabei sozioökonomische Besonderheiten berücksichtigt. Der ehemalige Leiter der Arbeitsgruppe Bevölkerungsmedizin und Seniorprofessor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld spricht im Interview über die Rolle der Wissenschaft und Lehren aus dem Ausnahmezustand.

Wenn Sie auf die Corona-Pandemie zurückblicken – was hat Sie am meisten überrascht?

Dass es gelungen ist, binnen eines Jahres wirksame Impfstoffe zu entwickeln. Das war nicht gleich klar und hat gezeigt, dass Forschung extrem wichtig ist. Bemerkenswert war für mich, dass die Pandemie sich aus vielen nationalen Epidemien zusammengesetzt hat. Die Verläufe waren je nach Land unterschiedlich, die Maßnahmen ebenso. Die Sensibilisierung für diese Unterschiede zwischen den betroffenen Ländern und ihren Denktraditionen hat mich auch zu dem Buch „Covid-19: Pandisziplinär und international“ inspiriert. Wir müssen uns dieser Andersartigkeit bewusst sein, um Pandemien bekämpfen zu können. Oder andere Bedrohungen: Ich sage, die Pandemie ist eine Blaupause für den Umgang mit dem Klimawandel.

Professor Dr. med. Alexander Krämer, mit Brille und schwarzer Jacke, steht vor einem Bücherregal.
Prof. Dr. med. Alexander Krämer leitete 23 Jahre die Arbeitsgruppe Bevölkerungsmedizin und biomedizinische Grundlagen an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften.

Wie meinen Sie das?

Unser Buch kann deshalb als Blaupause für andere globale Gesundheitsprobleme gelesen werden, weil auch beim Klimawandel in verschiedenen Weltregionen unterschiedliche Bedrohungslagen existieren. Dort müssen globale Bekämpfungsstrategien auf die gegebenen gesellschaftspolitischen, kulturellen und historisch gewachsenen unterschiedlichen Denktraditionen angepasst werden.

Was hat die Corona-Pandemie so einzigartig gemacht?

Diese Pandemie hat gezeigt, wie anfällig der globale Norden für Infektionskrankheiten ist. Manche Gesundheitswissenschaftler*innen waren davon ausgegangen, dass wir nur von chronischen, nicht-übertragbaren Erkrankungen betroffen sind. Aufgrund unserer Demografie mit einem großen Anteil an älterer Bevölkerung mit vielen Vorerkrankungen wissen wir jetzt, dass dies ein Irrglaube war.

Was kann Deutschland aus den Erfahrungen der Pandemie lernen?

Eine ganze Menge. Es reicht nicht, Pandemiepläne nur in der Schublade zu haben, man muss sie auch umsetzen können. Abläufe müssen eingeübt sein – national und international. Hilfreich sind Synergien zwischen dem Öffentlichen Gesundheitsdienst, zu dem auch das Robert-Koch-Institut, das RKI, zählt, und Wissenschaftler*innen an Universitäten. Der eklatante Mangel an Pflegekräften wurde offensichtlich. Da muss sich etwas tun. Genauso unzureichend war die veraltete Technologie im Öffentlichen Gesundheitsdienst, etwa bei den Gesundheitsämtern. Diese Erfahrungen haben der Digitalisierung einen Schub verliehen.

Und was können wir uns von anderen Ländern noch abgucken?

In der epidemiologischen Forschung haben wir im Vergleich etwa zu Großbritannien noch erhebliche Lücken, etwa in den Bereichen Real Time Data für Monitoring, Modellierung oder der molekularen Epidemiologie. Da lohnt es sich, zu investieren. Die frühere Erfahrung mit ähnlichen Atemwegserkrankungen wie SARS-CoV-1 oder MERS spielt eine Rolle. Asien hat jahrzehntelange Erfahrungen mit Infektionen, die über die Atemwege übertragen werden – das zeigt sich dort in effektiven Präventions- und Bekämpfungsmaßnahmen gegen SARS und Influenza. Die Royal Society in Großbritannien hat in einem Bericht zu nicht-pharmazeutischen Maßnahmen herausgefunden, dass strikte Lockdowns, FFP2-Masken und das Testen in der ersten Pandemiephase sehr effektiv waren. Sie haben uns Zeit verschafft, das Virus zu studieren und einen Impfstoff zu entwickeln. Die präventive Wirkung von Luftfiltern und Lüften konnte zu meiner Verwunderung nicht nachgewiesen werden, was wahrscheinlich mit der Schwäche entsprechender Studien zusammenhängt. Ein spannender Nebeneffekt ist, dass die Hände-Desinfektion immerhin zu weniger Magen-Darm-Infektionen im Gaststättengewerbe geführt hat. Bemerkenswert ist ferner die starke Reduktion anderer Atemwegsinfektionen durch Social Distancing und Masken. Später, als weniger stark krankmachende aber sich schneller ausbreitende Virusvarianten vorherrschten, wären Schulschließungen nicht mehr angesagt gewesen. Die Kollateralschäden für Schüler*innen waren bekanntlich groß. Bei harten Maßnahmen wie Lockdowns müssen psychologische und wirtschaftliche Auswirkungen mitbedacht werden. Um aber Deutschland mit anderen Ländern zu vergleichen, müssen wir auch Faktoren wie das unterschiedliche Zusammenspiel von Maßnahmen, die Bereitschaft der Bevölkerung mitzuspielen und die unterschiedlichen sozioökonomischen und kulturellen Gegebenheiten von Ländern sowie deren Gesundheitssysteme berücksichtigen.

Ein Mann mit Brille und schwarzer Jacke steht vor einem Bücherregal.
„Bemerkenswert ist für mich, dass die Pandemie sich aus vielen nationalen Epidemien zusammensetzt. Die Verläufe waren je nach Land unterschiedlich, die Maßnahmen ebenso.“
Prof. Dr. med. Alexander Krämer

Es geht also immer auch um gesellschaftliche Besonderheiten.

Unbedingt. Die Rolle des Datenschutzes etwa ist kulturell geprägt. In Deutschland ist er historisch bedingt sehr hoch bewertet und seine Dominanz erschwert durch kaum erfüllbare Auflagen epidemiologische Studien. In angelsächsischen Ländern und Fernost ist das anders. Südkorea hat nie einen strikten Lockdown verhängt. Mit Apps und Tracing hat man die Infektion gut in den Griff bekommen.

In Deutschland wurde viel über das Für und Wider des Lockdowns diskutiert. Hat die Kommunikation der Pandemie versagt?

Im Nachhinein wird gerne kritisiert, selbst der erste, im März 2020, verhängte Lockdown für entbehrlich gehalten. Solche undifferenzierte Fundamentalkritik halte ich für falsch, denn das RKI und andere Wissenschaftsteams haben viel und sinnvoll kommuniziert. Leider wurden auch selbst ernannte Expert*innen zu vielen Talkshows eingeladen, die eher Verwirrung gestiftet haben. Die Kommunikation von Unsicherheiten, Wahrscheinlichkeiten und Risiken ist eine große Herausforderung. Da sind ausgewiesene Expert*innen mit Erfahrung und Kenntnissen gefragt, damit Fehl- und Falschinformationen genauso wie bewusste Manipulationen verhindert werden.

Hat sich die Rolle der Wissenschaft durch die Pandemie verändert?

Ganz klar ist sichtbarer geworden, wie bedeutend Wissenschaft für unser Leben ist. Schwierig wird es, wenn keine Sicherheiten bestehen oder sich Wissenschaftler*innen streiten und zu gänzlich anderen Ergebnissen kommen. Dann werden notorische Skeptiker wie Corona-Leugner*innen oder Impfgegner*innen in ihren Ansichten befeuert. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es auf Basis kultureller Besonderheiten eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der modernen Wissenschaft. Es wäre naiv zu glauben, dass man solche Hardliner durch wissenschaftliche Argumente überzeugen kann. Insgesamt aber hat sich die Sensibilität der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit gegenüber wissenschaftlichen Methoden erhöht.

„Covid-19 pandisziplinär und international“

Das Sachbuch, im Oktober 2023 erschienen und herausgegeben von Alexander Krämer und Michael Medzech, liefert Hintergründe zu gesundheitswissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen und philosophischen Aspekten der Pandemie. Beiträge beschreiben epidemiologische Entwicklungen und Reaktionen in verschiedenen Ländern und Weltregionen in Bezug auf sozioökonomische, soziopolitische und kulturelle Besonderheiten in den Regionen. Buchkapitel aus den Natur-, Geistes- und Religionswissenschaften sowie der Philosophie vervollständigen den pandisziplinären Ansatz. Erschienen ist das Buch bei Springer VS, 555 Seiten (ISBN 978-3-658-40524-3).