Als Nadja Winterhalter, Sonja Mazur und zwei weitere Kommilitoninnen an einem kalten, noch dunklen Januarmorgen das Evangelische Klinikum Bethel (EvKB) betreten, liegen erst drei Monate Medizinstudium an der Universität Bielefeld hinter ihnen. Trotzdem werden sie heute zum ersten Mal Kontakt zu echten Patient*innen haben – der Unterricht am Krankenbett (UaK) bereits ab dem ersten Semester ist eine Besonderheit des Bielefelder Modellstudiengangs.
Bevor es so weit ist, verschwinden die Studentinnen aber erstmal in der „Umkleide für Studierende“, wie es rot auf weiß auf einem laminierten Schild oberhalb der Tür zu lesen ist. Um kurz vor halb acht treten sie als Ärztinnen wieder heraus – zumindest optisch: Weiße Hose, weißer Kittel mit Namensschild, Sportschuhe, Haare zurückgebunden, ein Klemmbrett mit unbeschriebenem Papier und Stift in der Hand. Das wird erst später zum Einsatz kommen. Jetzt geht es erstmal darum, an der Frühbesprechung der Unfallchirurgie und Orthopädie teilzunehmen.
Die hat in einem großen, halbdunklen Konferenzraum im Untergeschoss bereits begonnen. Nichtsdestotrotz bittet Klinikdirektor Professor Dr. med. Thomas Vordemvenne die Studentinnen mit einer einladenden Handbewegung hinein. Rund 20 Mediziner*innen sitzen an Tischen, die u-förmig aufgestellt sind, an der offenen Seite sind Röntgenbilder des aktuell besprochenen Falls an die Wand projiziert. Die vier angehenden Ärztinnen nehmen in den Reihen ihrer zukünftigen Kolleg*innen Platz, einer der Ärzte stellt eine Patientin vor, die im EvKB aufgenommen werden soll. Nadja Winterhalter schaut konzentriert zwischen Sprechendem und Wandprojektion hin und her und auch Sonja Mazur hört zu, ein Lächeln auf den Lippen. „Ich habe während der Schulzeit ein Praktikum im Krankenhaus gemacht“, erzählt die 19-Jährige später, „und da bei den Besprechungen wirklich nichts verstanden. Heute war das schon anders, weil mir bestimmte Begriffe – Fraktur, Luxation, Kompartmentsyndrom – durch das Studium bereits bekannt waren und ich beim UaK die Gelegenheit hatte, Theorie und Praxis zu verknüpfen.“
© Elena Berz
Das Medizinstudium in Bielefeld ist in Module gegliedert. In den ersten sechs Semestern stehen pro Halbjahr zwei organ- beziehungsweise themenzentrierte Einheiten auf dem Lehrplan. Im ersten Semester bekommen die Studierenden eine Einführung in das Medizinstudium und beschäftigen sich außerdem mit dem Stütz- und Bewegungsapparat – und zwar nicht nur in Seminaren und Vorlesungen, sondern auch schon ganz praktisch, im Krankenhaus. Im Gegensatz zu Regelstudiengängen, trennt der Modellstudiengang der Medizinischen Fakultät OWL das Studium nämlich nicht in vorklinische und klinische Abschnitte. Stattdessen gibt es bereits im ersten Semester klinische Studieninhalte – so wie der heutige Unterricht am Krankenbett, den die Studentinnen, passend zum Modul des ersten Semesters, in der Unfallchirurgie und Orthopädie absolvieren.
Da steht nach der Frühbesprechung die chefärztliche Visite auf der Tagesordnung. Der Tross aus Professor Vordemvenne, Ober-, Fach- und Assistenzärzt*innen setzt sich in Richtung Fahrstuhl in Bewegung. Nicht alle passen in den geräumigen Aufzug hinein. Mazur, Winterhalter und zwei, drei Andere nehmen die Treppe zur Intensivstation, wo zunächst Visite gemacht wird. Während sich das erste Krankenzimmer rasch mit Mediziner*innen und Pfleger*innen füllt, weist einer der Ärzt*innen – an die Studentinnen gewandt – zur Tür: „Versuchen Sie, mit reinzukommen!“
Das klappt in der folgenden Stunde nicht immer, aber oft: Mal stehen Nadja Winterhalter und Sonja Mazur direkt neben dem Krankenbett, mal in der Tür. Dann schauen sie über Schultern, beugen sich leicht vor oder zur Seite, um trotzdem möglichst viel mitzubekommen. Obwohl von Zimmer zu Zimmer geeilt wird, nimmt sich Thomas Vordemvenne auf dem Gang immer wieder Zeit, um für die Studentinnen kurz etwas einzuordnen („Das hatten wir ja gestern im Seminar … “) oder das Wissen aus den Vorlesungen mit den gerade besuchten echten Fällen zu verbinden („Das haben Sie alles schon mal gehört, so sieht das dann aus“). Mit einem „herzlichen Dank und viel Spaß noch“ verabschiedet sich der Chefarzt am Ende der Visite von den Studentinnen. „Toll, dass wir heute Mediziner*innen getroffen und in ihrem Arbeitsalltag gesehen haben, die wir als Lehrende aus der Uni kennen“, sagt Nadja Winterhalter im Anschluss an den UaK, „da habe ich mich gleich viel wohler gefühlt. Auch, weil spürbar ist, dass sie unterrichten möchten und mit Begeisterung bei der Sache sind.“
Überhaupt ist Nadja Winterhalter vom Konzept des Modellstudiengangs überzeugt. „Der Praxisbezug von Beginn an, war für mich auf jeden Fall ein Argument, Medizin in Bielefeld zu studieren“, so die 20-Jährige. Sie kenne aber auch Kommiliton*innen, die darin Nachteile sähen, wenn die theoretischen Grundlagen noch nicht so umfassend seien, dass in der Praxis alles verstanden werden könne. „Ich kann dem aber nicht zustimmen. Mir hilft der Praxisbezug, um die Theorie zu verstehen.“
Nach der Visite erhöht sich die Praxis-Dosis für die Studentinnen noch einmal: Sie sollen eigenständig Anamnesen durchführen. Assistenzarzt Dr. med. Philipp-Julian Leimkühler erklärt: „Ihr wisst, das ist letztlich ein Frage-Antwort-Spiel, es geht darum, die Beschwerden und Krankheitsgeschichte zu erfassen. Dafür haben wir für jede einen Patienten ausgesucht, die sind alle sehr nett und vorgewarnt. Wer möchte anfangen?“ Die Vier schauen sich an, zögern, keine meldet sich freiwillig zuerst. Schließlich übernimmt Nadja Winterhalter die erste Anamnese. Neben dem Bett des Patienten stehend stellt sie Fragen zum Unfallhergang, zu Medikamenten, dem sozialen Umfeld, schreibt auf dem Klemmbrett mit. Zum Ende des Gesprächs hin mischt sich unter die Patientenantworten unregelmäßig das Klicken ihres Kugelschreiberdruckknopfes.
© Elena Berz
„Aufgeregt war ich nicht“, sagt die angehende Ärztin am Mittag, nachdem der Unterricht am Krankenbett beendet ist. Ihre Kommilitonin Sonja Mazur nickt, Vorfreude treffe es eher. „Aber“, so Winterhalter, „anders hätte es ausgesehen, wenn ich beim Unterricht am Krankenbett nicht in der Gruppe, sondern allein gewesen wäre.“ Die Studentinnen kennen sich bereits gut, ihr Studienjahrgang umfasst 60 Personen, jeweils 20 bilden eine Seminargruppe, die für bestimmte Lernformate, wie den UaK, wiederum in feste Kleingruppen aufgeteilt ist. „Das ist ein gutes Konzept von der Uni“, sagt Mazur, „wir haben von Beginn an alle Kurse zusammen und sind uns dementsprechend schon sehr vertraut.“ Das ist auch für den Simulationsunterricht wichtig, wo sie die Anamneseerhebung mit einem Schauspieler bereits geübt haben.
Quasi eine Trockenübung. Nun bekommt aber auch Sonja Mazur die Gelegenheit, das dort Erlernte unter realen Bedingungen anzuwenden. Bevor sie das Zimmer ihres Patienten für die Anamnese betritt, hält sie vor der Tür kurz inne, blickt zu Boden, klopft dann zaghaft an. Am Fußende des Bettes stellt sie sich vor, erklärt, weshalb sie hier sind, beginnt, ihre Fragen zu stellen. Zwischendurch bedankt sie sich für die Beantwortung, schaut beim Mitschreiben immer wieder den Patienten an, sagt schließlich: „Wenn das okay ist, hätte ich noch ein paar Nachfragen, weil wir Hüftdysplasie erst kürzlich im Unterricht hatten.“
Der Patient erzählt gern noch etwas, für ihn scheint die Übung eine willkommene Abwechslung vom Krankenhausalltag zu sein und sowohl Sonja Mazur als auch Nadja Winterhalter zeigen sich später begeistert darüber, einiges, wovon sie bislang in der Uni nur gehört, nun in echt gesehen zu haben. Und auch auf den Röntgenbildern wiedererkannt zu haben, die Assistenzarzt Leimkühler den Studentinnen im Anschluss an die Anamneseerhebung zeigt, als er mit ihnen nochmal Fall für Fall durchgeht. Während er gerade eine bestimmte Krankheit erwähnt und fragt, ob die Studentinnen davon schon gehört hätten, kommt eine andere Assistenzärztin ins Zimmer, lächelt und meint: „Das können sie im ersten Semester noch nicht wissen, das ist Stoff aus dem achten Semester.“ Als Leimkühler erwidert, dass sie ja auch nicht in dem Bielefelder Modellstudiengang gewesen sei, antwortet seine Kollegin: „Stimmt!“ und beide lachen.
© Elena Berz
Anders als Nadja Winterhalter, die sich bewusst für diesen Studiengang entschieden hat, war die Universität Bielefeld nicht Sonja Mazurs Erstwunsch fürs Medizinstudium. Doch: „Ich bin sehr positiv überrascht worden. Es ist spannend, so früh klinische Erfahrungen zu sammeln. Natürlich haben wir heute noch nicht alles verstanden, aber die Einblicke in die Berufspraxis, die wir durch den UaK bekommen, motivieren mich, weil ich sehe, wofür ich studiere.“
Wobei sich die beiden Studentinnen einig sind, dass ihr erster Unterricht am Krankenbett ihnen noch kein gänzlich realistisches Bild des Berufs gezeigt hat. „Natürlich haben wir bei der Visite auch mitbekommen, wie es in echt abläuft, aber ein Stück weit bietet uns der UaK einen geschützten Raum“, so Mazur. „Denn bei der Anamneseerhebung war das Tempo deutlich niedriger, alles war für uns vorbereitet, wir hatten keinen Stress und konnten so die Kompetenzen, die wir bislang erworben haben, auch anwenden.“ Nadja Winterhalter stimmt zu: „Der Unterricht am Krankenbett bietet uns die Möglichkeit, langsam in den Beruf reinzuwachsen.”
Als wolle er der Unterrichtseinheit noch ein bisschen mehr Realismus verpassen, schaut Dr. Leimkühler am Ende der Anamnesebesprechung nach, ob jemand in der Notaufnahme ist. „Wenn nicht, habt ihr davon ja nicht viel.“ Doch es bleibt ruhig an diesem Morgen, kein einziger Notfall ist eingetroffen. Vielleicht, wenn die Studentinnen das nächste Mal in die weißen Kittel schlüpfen – auf den anstehenden Unterricht am Krankenbett in der Rheumatologie jedenfalls freuen sie sich schon jetzt.