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Studierende steigen in die Stadtbahn ein

Anna Oksuzyan erforscht, wie Pendeln auf Gesundheit wirkt


Autor*in: Jana Haver

Lange regelmäßige Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz mit Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln können verschiedene Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Pendler*innen und ihrer Familien haben. Inwiefern wirkt sich ein langer Arbeitsweg auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der nicht pendelnden Partner*innen aus? Welche Auswirkungen hat der lange Arbeitsweg der Eltern auf die Gesundheit und das Sozialverhalten der Kinder, wie ihre schulischen Leistungen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Professorin Dr. Anna Oksuzyan in ihrem vom Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderten Projekt an der Universität Bielefeld. 

Der ERC fördert Professorin Dr. Anna Oksuzyan mit ihrem Projekt COMFAM mit rund 2,2 Millionen Euro über fünf Jahre. Sie befasst sich darin mit den Effekten von passivem Pendeln auf die Gesundheit. Wer aktiv pendelt, geht regelmäßig zu Fuß zur Arbeit oder radelt dorthin. Wer passiv pendelt, nutzt motorisierte Fahrzeuge. „Passives Pendeln ist in der Regel mit weiten Strecken und wenig eigener körperlicher Bewegung verbunden“, sagt die Professorin.

Anna Oksuzyan leitet die Arbeitsgruppe „Demografie und Gesundheit“ der Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Mit dem COMFAM-Projekt will sie untersuchen, ob lange Pendelwege weitreichende Folgen für alle Familienmitglieder haben. In dem Projekt soll auch untersucht werden, ob die gesundheitlichen Folgen des Pendelns je nach sozialer Gruppe variieren, zum Beispiel nach Geschlecht, sozioökonomischem Status und Migrationshintergrund. Betrachtet wird die Gesundheit der Pendler*innen und ihrer Familienangehörigen, zum Beispiel Partner*innen und Kinder.

Anna Oksuzyan geht zum Beispiel folgenden Fragen nach: Macht es einen Unterschied für den Zusammenhang zwischen langen Arbeitswegen und Gesundheit, ob die Pendler*innen Akademiker*innen oder Bauarbeiter*innen sind? Unterscheiden sich die Auswirkungen langer Pendelzeiten der Eltern auf die Gesundheit der Kinder, je nachdem, ob die Mutter oder der Vater pendelt? Die Forscherin erwartet, dass die Auswirkungen des Pendelns auf die Gesundheit und das Wohlbefinden aller Familienmitglieder in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen heterogen sind. Die Ergebnisse des Projekts können zur Entwicklung politischer Maßnahmen herangezogen werden, um sowohl die Arbeitsmarktpartizipation von Doppelverdiener-Familien als auch von gefährdeten Gruppen wie Alleinerziehenden zu verbessern und die nachteiligen Konsequenzen langer Pendelwege für die Familienmitglieder zu mindern. Die Ergebnisse könnten sowohl für Einzelpersonen und Familien als auch Arbeitgeber von Bedeutung sein.

Bild der Person: Prof’in Dr. Anna Oksuzyan
Im Projekt von Prof’in Dr. Anna Oksuzyan geht es um den Zusammenhang von passivem Pendeln und der Gesundheit der Familienmitglieder der Pendler*innen.

Die Entwicklung der Projektidee

„Die Projektidee hatte ich schon länger, aber ich habe sie erst während der Covid-19-Pandemie in einen Förderantrag übertragen“, erinnert sich Anna Oksuzyan. „Das Thema war interessant, aber ich hatte keine Erfahrung mit der Arbeit in diesem Forschungsbereich“. Der Schwerpunkt ihrer Forschung lag auf geschlechtsspezifischen Unterschieden hinsichtlich Gesundheit und Lebenserhalt. Bei der Literaturrecherche stellte sie fest, dass es nur wenige Studien gibt, die sich mit den Auswirkungen langer Arbeitswege auf die Gesundheit von Lebenspartner*innen und Kindern von Pendler*innen befassen. In der Pandemie spielte das Pendeln keine Rolle mehr, weil fast alle, die einen Job hatten, den man angemessen von zu Hause erledigen konnte, nicht mehr pendelten. Die Pandemie kann somit als landesweites Experiment herangezogen werden: „Wir können die Pandemie als Setting nutzen, um zu untersuchen, welche Auswirkungen die Aussetzung des Pendelns auf die Gesundheit der Pendler*innen und ihrer Familien hat und wie sich dieses Verhältnis nach der Pandemie entwickeln wird.“

Prof’in Dr. Anna Oksuzyan
„Die Pandemie hat uns gelehrt, dass wir viel von zu Hause leisten können. Eine Rückkehr zum Status quo – ,Arbeit ausschließlich im Büro‘ – ist für viele Arbeitsnehmer*innen nicht mehr attraktiv. Deshalb spielt die Pandemie, die den Wunsch nach flexiblen Arbeitsmodellen verstärkt hat, in meinem Projekt eine wichtige Rolle.”
Professorin Dr. Anna Oksuzyan

Persönliche Interesse am Themengebiet Pendeln

Anna Oksuzyan pendelte selbst über einige Jahre: zuerst zwischen Rostock in Deutschland und Odense in Dänemark und später zwischen Rostock und Bielefeld. „Ich bin vor und nach der Geburt meiner Kinder gependelt“, sagt sie. „Ich habe das Pendeln als prägende Lebenserfahrung wahrgenommen.“

Nach acht Jahren des Pendelns übernahm Anna Oksuzyan 2014 die Leitung einer unabhängigen Max-Planck-Forschungsgruppe in Rostock. „Ich habe ein persönliches Interesse an diesem Projekt“, sagt die Professorin. „Damals hatte ich zwei Kinder, ein und drei Jahre alt, und mein Mann konnte nicht mit uns nach Dänemark ziehen. Das war einer der Gründe, warum ich zurück nach Rostock gezogen bin.“

Jetzt blickt die Wissenschaftlerin zurück: „Das weite Pendeln ist nicht einfach, vor allem wenn man Kinder hat.“ Pendeln sei physisch und psychisch belastend. „Ich hatte das große Glück, dass mein direkter Vorgesetzter bezüglich meines Arbeitsortes flexibel war und ich selbst entscheiden konnte, wann ich von Rostock aus arbeite und wann ich in Odense bin, sodass es für mich und meine Familie nicht so kostspielig war.“ Diese Art des Pendelns sei typisch für Akademiker*innen. Anna Oksuzyan geht davon aus, dass die Flexibilität am Arbeitsplatz nicht für alle gegeben ist, zum Beispiel beim Schichtdienst und dass lange Pendelwege daher stärkere negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Pendler*innen und ihrer Familienmitglieder in diesen Bevölkerungsgruppen haben können.

Das Projekt, die Ziele und das Vorgehen

„In der Forschung ist es wichtig sicherzustellen, dass unsere eigenen Erfahrungen unsere Ergebnisse nicht verzerren“, sagt Anna Oksuzyan. „Eine Möglichkeit, diese unbewusste Voreingenommenheit zu reduzieren, ist durch die Arbeit im interdisziplinären Team und das gegenseitige Kontrollieren und Konfrontieren.“ Das Projekt beginnt im Herbst dieses Jahres. Zum Projektteam gehören zwei Postdoktorand*innen, ein*e Doktorand*in und ein Wissenschaftler der Universität Helsinki, der bei der Analyse der finnischen Registerdaten unterstützt.

Konkret ist das Projekt in vier Pakete unterteilt:

  • körperliche und geistige Gesundheit der Pendler*innen
  • Wechselwirkungen zwischen langem Pendeln und der Gesundheit der Partner*innen
  • Zusammenhänge zwischen langem Pendeln von Eltern und der Gesundheit der Kinder und deren Sozialverhalten
  • lange Pendelwege während und nach der COVID-19-Pandemie und die Gesundheit der Pendler*innen und ihrer Familienangehörigen

Genutzt werden Registerdaten aus Dänemark und Finnland sowie Umfragedaten aus Deutschland und dem Vereinigten Königreich.

„Meine Erwartungen sind, dass wir stärkere Auswirkungen auf die psychische als auf die physische Gesundheit feststellen werden. Bei gesundheitlichen Belastungen dauert es in der Regel länger, bis physische Auswirkungen auftreten“, sagt Anna Oksuzyan. „Es kann auch sein, dass sich Familien mit einem pendelnden Mitglied an die regelmäßige Abwesenheit einer Person gewöhnt haben. Wenn die oder der pendelnde Angehörige nun zu Hause ist, kann das eine erhebliche Belastung für alle Familienmitglieder darstellen. Dies könnte den positiven Effekt des Verzichts auf das Pendeln mindern.“

Prof’in Dr. Anna Oksuzyan
Prof’in Dr. Anna Oksuzyan lebt nach einigen Jahren des Pendelns mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern seit knapp zwei Jahren in Bielefeld.

Zur Person

Anna Oksuzyan wurde an der Yerevan State University in Armenien als Ärztin ausgebildet und absolvierte an der American University of Armenia einen Master-Abschluss im öffentlichen Gesundheitswesen. Sie erhielt ihren Doktortitel in Gesundheitswissenschaften an der University of Southern Denmark in Odense, wo sie von 2010 bis 2014 als Postdoktorandin und Assistenzprofessorin tätig war. 2014 wurde sie Leiterin der unabhängigen Max-Planck-Forschungsgruppe „Gender Gaps in Health and Survival“ (Geschlechterunterschiede bei Gesundheit und Überleben) in Rostock, Deutschland. 2021 kam sie als Gastprofessorin an die Universität Bielefeld. Ein Jahr später berief die Universität Anna Oksuzyan als Professorin an die Fakultät für Gesundheitswissenschaften.  

ERC Consolidator Grants

Die ERC Consolidator Grants (CoG) richten sich an herausragende Wissenschaftler*innen aller Fachbereiche, deren eigene unabhängige Arbeitsgruppe sich in der Konsolidierungsphase befindet. Der Europäische Forschungsrat (ERC), 2007 von der Europäischen Union gegründet, ist die wichtigste europäische Förderorganisation für exzellente Pionierforschung. Er fördert herausragende Forschende aller Nationalitäten und jeden Alters, die Projekte in ganz Europa umsetzen.