Durch die aktuelle Klimakrise hat sich die wissenschaftliche Gemeinschaft in den vergangenen Jahren verstärkt mit der Frage beschäftigt, wie Klimaschwankungen in der Vergangenheit zu historischer menschlicher Mobilität und anderen Verhaltensweisen beigetragen haben. Nun fordert eine internationale Gruppe von Wissenschaftler*innen, – darunter Archäolog*innen, Historiker*innen, Klimawissenschaftler*innen, Paläowissenschaftler*innen und ein Vulkanologe – die gemeinsam am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) forschen, ein verstärktes Engagement für die transdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Erforschung der vergangenen und gegenwärtigen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Ihre Empfehlungen wurden jetzt in der renommierten Zeitschrift Science Advances veröffentlicht. Kern der nun veröffentlichten Studie, ist ein von der Gruppe neu entwickeltes Analyse-Instrument, das so genannte „Dahliagramm“, das es Forschenden ermöglicht, ein breites Spektrum an quantitativem und qualitativem Wissen aus unterschiedlichen disziplinären Quellen und epistemologischen Hintergründen zu analysieren und zu visualisieren.
„Im Kontext immer höher aufgelöster Daten über vergangene klimatische Bedingungen, rücken Umweltveränderungen als entscheidender Faktor in Prozessen des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandels – und menschlichen Verhaltens im Allgemeinen – über Zeit und Raum hinweg in den Vordergrund“, sagt Professorin Dr. Eleonora Rohland, Professorin für Verflechtungsgeschichte der Amerikas in der Vormoderne an der Universität Bielefeld und eine der Mitautor*innen der Studie. „Interdisziplinäre Versuche, Daten aus Geschichte, Klimawissenschaft, Archäologie und Ökologie miteinander zu verknüpfen, um vergangene sozial-ökologische Interaktionen zu modellieren, werden jedoch durch nicht übereinstimmende Maßeinheiten und Unsicherheitsgrade behindert.“ Das Dahliagramm versucht, diese Herausforderungen zu überwinden, indem es eine universelle und visuelle Sprache schafft, die eine disziplinübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht. Außerdem ermöglicht es den Forscher*innen, riesige Datenmengen in einem einzigen, leicht zu interpretierenden Modell zusammenzufassen.
© Universität Bielefeld
Tool kann an Bedürfnisse einzelner Studien angepasst werden
Benannt nach der Dahlie, deren Blütenblätter in konzentrischen Reihen angelegt sind, veranschaulichen die „Blütenblätter“ des Dahliagramms die relative Auswirkung der verschiedenen Pull- und Push-Faktoren, die im Laufe der Zeit zum menschlichen Verhalten beitragen. Die Blütenblätter könnten zum Beispiel das Klima und die Umwelt, Konflikte, Politik und Macht, Technologie und die Verfügbarkeit von Ressourcen darstellen. Dies sind jedoch nur Beispiele. Einer der Vorteile des Tools besteht darin, dass es vollständig an die Bedürfnisse der einzelnen Studien angepasst werden kann.
Laut Eleonora Rohland soll das Tool das konzeptionelle Denken anregen und kritisches Engagement, Dialog und Debatte fördern. Es nimmt Daten aus Forschungsbereichen wie Geschichte oder Archäologie auf, die als Faktoren für das Verständnis von Verhaltensweisen wie Migration nicht leicht zu quantifizieren sind. Und es verlangt von Benutzer*innen, über einfache Kausalitäten hinaus zu denken und die einzigartige Überschneidung sozialer, wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Bedingungen zu berücksichtigen. „Das Tool ermöglicht nicht nur ein differenzierteres Verständnis komplexer Daten, sondern kann auch als ‚Selbsttest‘ dienen – eine Möglichkeit, eigene Hypothesen und Annahmen zu überprüfen”, sagt Rohland.
Menschliche Mobilität als Verhaltensreaktion steht im Zentrum der Studie
Obwohl das Dahliagramm ein universelles Instrument für die Erforschung der Mensch-Umwelt-Interaktion ist, konzentrierten sich die Forschenden für diese Studie auf die menschliche Mobilität als Verhaltensreaktion. Die „Bewegung“ steht im Zentrum des Dahliagramms, während die verschiedenen diese „Bewegung“ beeinflussenden Faktoren in einer Reihe von Blütenblättern dargestellt werden. Das Team fasste eine Vielzahl von Forschungsergebnissen und Daten zu jedem Faktor zusammen und ordnete ihn dann nach seinem Einfluss in drei konzentrischen Ringen mit zunehmender Intensität von niedrig bis hoch ein.
Insgesamt stellte die Gruppe fest, dass das Dahliagramm bei der Bewertung von Populationsbewegungen, die innerhalb gut dokumentierter historischer Zeitskalen sowie über lange Zeiträume hinweg stattfanden, effektiv war. „Wir hoffen nun, dass unser neuer Dahliagramm-Ansatz von vielen Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Bereichen der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften angewandt wird, um die interdisziplinäre Erforschung der Verflechtungen zwischen Natur und Mensch zu verbessern“, sagt Dr. Franz Mauelshagen, Akademischer Oberrat der Abteilung Geschichte an der Universität Bielefeld, Klimahistoriker und Mitautor der Studie.
Die Idee für das Dahliagramm wurde durch die laufende interdisziplinäre Arbeit der Forschungsgruppe „Vulkane, Klima und Geschichte“ inspiriert, das von Ulf Büntgen und Clive Oppenheimer von der Universität Cambridge ins Leben gerufen und vom ZiF der Universität Bielefeld gefördert wird. Die nächste Tagung der Gruppe findet vom 27.11. bis zum 1.12. am ZiF statt. Neben Prof‘in Dr. Eleonora Rohland und Dr. Franz Mauelshagen haben die folgenden Experten zu der Studie beigetragen: Professor Michael Frachetti, Washington University in St. Louis; Professor Ulf Büntgen, University of Cambridge; Professor Nicola Di Cosmo, Institute for Advanced Study; Professor Jan Esper, Johannes Gutenberg-Universität; Lamya Khalidi PhD, Université Côte d’Azur CNRS, CEPAM; Professor Clive Oppenheimer, University of Cambridge.