Die Gesundheitsforschung im Bereich der Migration schenkt den Orten, in die Menschen einwandern, bislang wenig Aufmerksamkeit. Der Bielefelder Gesundheitswissenschaftler Professor Dr. Kayvan Bozorgmehr hat nun in Zusammenarbeit mit Forschenden der Universitäten Bielefeld und Heidelberg eine systematische Übersichtarbeit zu den Auswirkungen der Lebensumgebung von Menschen auf deren Gesundheit vorgelegt, die in der renommierten Zeitschrift eClinical Medicine als Teil des The Lancet Discovery Science veröffentlicht wurde. Die Studie „Context, health and migration: a systematic review of natural experiments“ („Kontext, Gesundheit und Migration: eine systematische Überprüfung von natürlichen Experimenten“) beleuchtet den oft übersehenen Einfluss der Lebensumgebung, in die Menschen migrieren, auf ihre Gesundheit.
„Wo wir Menschen leben kann sich auf unsere Gesundheit auswirken. Jedoch sind Studien über die gesundheitlichen Auswirkungen von Kontextfaktoren oft begrenzt, da sich die Menschen in der Regel ihre Lebensumgebung selbst aussuchen können“, erklärt Kayvan Bozorgmehr. „Es gibt aber Situationen, in denen die Lebensumgebung von Menschen eher von Zufallsfaktoren abhängt. Durch diese sogenannten natürlichen Experimente können wir die kausale Wirkung von Kontexten untersuchen.“ Ziel sei es gewesen, die Erkenntnisse über kontextbedingte Gesundheitseffekte aus natürlichen Experimenten bei Migrantengruppen zusammenzufassen.
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Die Studie konnte gleich mehrere neue Erkenntnisse liefern: Es gibt beispielsweise eine gesundheitliche Benachteiligung durch Eigenschaften der unmittelbaren Nachbarschaft. Bozorgmehr und seine Kolleg*innen liefern in ihrer Arbeit stichhaltige Beweise dafür, dass sich sozio-ökonomische Benachteiligung in der Nachbarschaft negativ auf die körperliche Gesundheit und die Sterblichkeit von Migrant*innen auswirkt. Die Auswirkungen der Benachteiligung in der Nachbarschaft auf die psychische Gesundheit waren uneinheitlich, und die Studie unterstreicht die komplexe Beziehung zwischen kontextuellen Einflussfaktoren und verschiedenen psychischen Gesundheitsergebnissen. Der Vergleich zwischen Migrant*innen und jenen, die nicht Auswandern zeigt die nachteiligen Auswirkungen von Migrationsprozessen und ungünstigen Kontexten im Ankunftsland auf die körperliche Gesundheit und die Sterblichkeit. Der Umzug in ein neues soziales und wirtschaftliches Umfeld hat jedoch positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und die Gesundheit von Kindern unter Migranten.
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Negative Auswirkungen von restriktiver Migrations- und Sozialpolitik
Auch das politische Umfeld war Untersuchungsgegenstand der Wissenschaftler*innen. Natürliche Experimente zum politischen Umfeld zeigen, laut Studie, die negativen Auswirkungen restriktiver Migrations- und Sozialpolitik auf die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung, die psychische Gesundheit und die Sterblichkeit. Positive Auswirkungen auf die Gesundheit wurden beobachtet, wenn die Beschränkungen aufgehoben wurden.
„Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung einer integrativen Migrations-, Gesundheits- und Sozialpolitik sowie den großen Einfluss von Programmen zur Verbesserung der Nachbarschaft und zur Armutsbekämpfung“, sagt Dr. Louise Biddle, Erstautorin der Studie. Die Studien basieren auf natürlichen Experimenten, die Aussagen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen ermöglichen und damit politischen Entscheidungsträger*innen und Fachleuten des öffentlichen Gesundheitswesens fundierte Belege für die Förderung der Gesundheit von Migrant*innen liefern. „Natürliche Experimente sind ein zu wenig genutztes Instrument in der Gesundheitsforschung und bieten reichhaltige Möglichkeiten, die Auswirkungen von Umweltfaktoren auf die Gesundheit in Zukunft zu untersuchen, sowohl für Migrant*innen als auch für andere Bevölkerungsgruppen“, so Bozorgmehr.