Wie lassen sich komplexe Systeme, die vom Zufall getrieben zu sein scheinen, mathematisch erfassen und beschreiben? Wie lässt sich etwa ein Wirtschaftssystem, in dem Menschen miteinander interagieren, in ein mathematisches System übersetzen? Wie kann man beschreiben, dass selbst kleinste Zufälle zu großen Veränderungen in der Klimadynamik führen können? Zu diesen und verwandten Fragen forscht der Stochastiker Professor Dr. Benjamin Gess von der Fakultät für Mathematik.
Der Europäische Forschungsrat (ERC) würdigt seine Arbeit als visionäre Forschung und zeichnet ihn mit dem ERC Consolidator Grant aus. Mit der Zuwendung werden exzellente Forschende gefördert, die ein eigenes Forschungsgebiet oder eine unabhängige Arbeitsgruppe aufbauen wollen. Gess erhält für sein Forschungsvorhaben von dem ERC zwei Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren. Er will mit seinem Team die Wechselwirkungen von Komplexität und zufälligen Effekten in einer mathematischen Struktur erfassen, „Die Förderung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, damit ich mich auf die Entwicklung meines Forschungsgebiets konzentrieren kann“, sagt er.
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Die gesellschaftliche Relevanz im Blick
Benjamin Gess ist Spezialist für stochastische partielle Differenzialgleichungen (SPDG). Die Stochastik befasst sich vor allem mit dem Zufall, seinen Gesetzmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Die SPDG sind zentral, um vom Zufall beeinflusste Systeme in der Fluid-, Kontinuums- und Quantenmechanik und in technischen Anwendungen zu modellieren.
Sein gefördertes Projekt heißt: Fluktuationen im Kontinuum und konservative stochastische partielle Differentialgleichungen. „In diesem Feld liegen im Moment viele Fortschritte in der Luft“, sagt Gess. Weil sich mit den speziellen Gleichungen Prozesse maschinellen Lernens, Klimasysteme oder auch wirtschaftliche Entwicklungen beschreiben lassen, habe das Thema eine „hohe gesellschaftliche Relevanz und Dringlichkeit“, sagt der Mathematiker.
Gess ist ebenfalls Leiter eines Teilprojekts im Sonderforschungsbereich „Unsicherheit beherrschen und Zufall sowie Unordnung nutzen in Analysis, Stochastik und deren Anwendungen“ (SFB 1283). In seinem Projekt geht es um stochastische partielle Differentialgleichungen mit Größen-erhaltendem Rauschen.
Schmetterlingseffekt und andere komplexe Ereignisse
Mit diesen speziellen Gleichungen lassen sich Zufälle und Fluktuationen greifbar machen, die es nahezu überall in komplexen Systemen wie beispielsweise dem Weltklima gibt. „Solche Systeme sind einer Fülle von Einflüssen ausgesetzt und hängen von einer Vielzahl von Parametern ab, die in Wechselwirkungen zueinander stehen“, sagt Gess.
Ein Beispiel dafür ist der Schmetterlingseffekt, der besagt, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien unter Umständen einen Tornado in Texas auslösen kann. Das Ziel von Gess ist es, solche Zusammenspiele von Wahrscheinlichkeit, Zufall und einem komplexen dynamischen Verhalten besser zu verstehen und sie mathematisch zu beschreiben. „Es geht mir dabei auch darum, neue mathematische Strukturen und Methoden zu entdecken.“ Komplexe Systeme, bei denen Zufälle sich fortschreiben können, spielen außer im großen Maßstab wie dem Klima auch im Mikrokosmos eine Rolle – etwa wenn es um die Frage geht, wie sich Atome in Verwirbelungen in Flüssigkeiten oder Gasen verhalten.
Auf der Suche nach Synergien in der Mathematik
Professor Dr. Benjamin Gess wurde im 2016 an die Fakultät für Mathematik mit dem Schwerpunkt stochastische partielle Differenzialgleichungen berufen. Er leitet ebenfalls eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften in Leipzig. „Meine Arbeitsgruppen in Bielefeld und Leipzig arbeiten eng zusammen. Das führt erfreulicherweise immer wieder zu unerwarteten Erkenntnissen.“
Gess hat Mathematik und Informatik in Bonn und Warwick (Großbritannien) studiert und promovierte an der Universität Bielefeld. Seine Doktorarbeit wurde 2012 mit dem Dissertationspreis der Universitätsgesellschaft Bielefeld ausgezeichnet. Als Postdoc arbeitete der Mathematiker an den Universitäten Bielefeld, der Technischen Universität Berlin und der Humboldt-Universität Berlin sowie der University of Chicago (USA).
In seiner Freizeit geht der Wissenschaftler gern ins Theater oder erkundet die Wanderwege rund um Bielefeld zum Joggen und Spazierengehen. „Ich fühle mich in Bielefeld sehr wohl“, sagt er. „Mir gefallen besonders die gelebte Interdisziplinarität an der Universität und das kollegiale Miteinander an der Fakultät für Mathematik.“ Die Bereitschaft, miteinander zu forschen, sei groß. „Das erklärt vielleicht auch, warum an der Fakultät für Mathematik gleich zwei Sonderforschungsbereiche angesiedelt sind“, so Gess.
Für die Mathematik der Zukunft sieht er großes Potenzial darin, die mathematischen Kerndisziplinen zusammenzuführen – Algebra, Analysis, Geometrie und Wahrscheinlichkeitstheorie. Deswegen hat er mit Kolleg*innen seiner Fakultät eine neue Forschungsinitiative aufgesetzt, die an Methoden arbeitet, um Synergien zwischen den Teilgebieten zu erschließen. Benjamin Gess ist einer der drei Sprecher*innen der Initiative, Co-Sprecher*innen sind der Algebraiker Professor Dr. Christopher Voll und die Zahlentheoretikerin Professorin Claudia Alfes-Neumann. Gess: „Die Verknüpfung der mathematischen Kerndisziplinen bietet die Chance, die großen Herausforderungen der Mathematik zu bewältigen – darunter die Erforschung der Gleichungen von Yang-Mills, der Beweis der Vermutung von Hodge, und das mathematische Verständnis des Maschinellen Lernens. Das ist eine riesige Motivation, daran zu arbeiten, neue Synergien in der Mathematik und ihren Anwendungen ausfindig zu machen.“