Universitätsrankings, Nobelpreisverleihungen, Wettbewerbe – Praktiken des Vergleichens sind allgegenwärtig. Sie prägen das Handeln von Akteur*innen in Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Politik und spielen in Geschichte und Gegenwart eine zentrale Rolle. Der Sonderforschungsbereich „Praktiken des Vergleichens“ (SFB 1288) erforscht, auf welch unterschiedliche Art und Weise Dinge miteinander in Relation gesetzt werden und wie sich das auf historische Wandlungsprozesse auswirkt. Ein Beispiel dafür ist die Entstehung von „Nationalliteratur“ mit dem Fokus Deutschschweiz, dem sich das jüngste Teilprojekt des Forschungsverbunds widmet. Im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) läuft diese Woche eine Konferenz mit Bezug zu der Forschung. Drei Fragen an die Teilprojektleiterin Professorin Dr. Berenike Herrmann.
Was macht die Nationalliteratur der Deutschschweiz mit Blick auf Vergleichspraktiken besonders?
Immer wenn von Nationalliteratur die Rede ist, wird auch verglichen. Dabei geht es nicht nur um Goethe versus Shakespeare, sondern es werden oftmals tiefgreifende und implizite Vorstellungen konstruiert. Nationalliteratur ist eine Konstruktion mit Tradition. Unser Forschungsprojekt heißt „Vergleichspraktiken in der Genese, Verstetigung und Transformation von ‚Nationalliteratur‘. Der Fall Deutschschweiz.“ Darin gehen wir der Frage nach, wie Akteur*innen eine Nationalliteratur im historischen Wandel erschaffen und wie die Nationalliteratur den Wandel beeinflusst. Unser Fokus liegt dabei auf der Deutschschweizer Literatur von 1850 bis 1950. Das Vergleichen ist ausschlaggebend, weil dies eine Gelenkstelle in der Betrachtung ist. Sobald wir von Schweizer Nationalliteratur sprechen, vergleichen wir sie mit Nationalliteratur aus Ländern wie Russland und Deutschland, zumindest in der damaligen Zeit. Im 19. Jahrhundert war die Literatur ein zentrales Mittel, um Menschen den Nationalgedanken und diesbezügliche Werte zu vermitteln. Das Besondere an dem Fallbeispiel Deutschschweiz ist, dass die Schweiz nicht nur ein multilinguales Land, sondern auch ein multikulturelles Land ist. Obwohl es folglich sehr unterschiedliche kulturelle Vergleichspraktiken gibt, ist dennoch von einer einheitlichen Nationalliteratur die Rede.
© Universität Bielefeld/Philipp Ottendoerfer
Sie setzen algorithmus-basierte Analyse ein – wie funktioniert dies in Ihrem Projekt?
In unserem Projekt stellen wir die Praktiken des Vergleichens auf eine große Datenbasis mittels digitaler korpusbasierter Verfahren. Als Korpus bezeichnen wir in der Literaturwissenschaft eine Sammlung von sprachlichen Daten. Das digitale Korpus, das wir im Projekt verwenden, besteht dabei gerade nicht aus den literarischen Texten selbst, sondern wir konzentrieren uns auf Sekundärliteratur und andere kulturelle Äußerungen. Dies sind zum Beispiel Preisreden, kulturpolitische Reden und – Kern unseres Projektes – Literaturgeschichten. All diese schreiben mit daran, wie das Gewordensein der Nation um 1900 ist. Wir widmen uns mittels digitaler Methoden den Fragen: Wie wird über Nationalliteratur gesprochen? Wie wird verglichen? Zwischen wem? Mit welcher Bewertung? Wird implizit oder explizit verglichen? Wir schauen uns die Vergleichstypen an und formulieren daraus ein Klassifikationsschema.
Hier zeigen wir die Muster des ‚Doing Nationalliteratur‘ mittels Textmining auf. Das sind algorithmus-basierte Analyseverfahren, die Bedeutungsstrukturen in Texten aufdecken – Strukturen und Muster, die teilweise noch nicht bekannt sind. Wir wollen Algorithmen trainieren, sodass sie Vergleichspraktiken in Sprache identifizieren. Und wir wollen gleichzeitig automatisch erfassen, wie stark eine bewertende Dimension in der Sprache vorhanden ist. Durch die digitale Erfassung von Archivmaterialien haben wir eine große Datenmenge, die wir hinsichtlich der Vergleichspraktiken auswerten und Verallgemeinerungen treffen können. Das Projekt betritt in mehrfacher Hinsicht Neuland. Zum einen wurden zuvor noch nie die Vergleichspraktiken in der Schweizer Literaturgeschichtsschreibung analysiert, die zudem noch weitere Daten aus dem literarischen Leben und Kulturpolitik mitaufnimmt. Zum anderen wurden bei der vergleichstheoretischen Rekonstruktion von Nationalliteratur bisher noch keine computergestützten Methoden miteinbezogen.
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Welche Bedeutung haben die Vergleichspraktiken für die Bildung?
Das Projekt versucht, ein oft übersehendes Phänomen aufzuhebeln, das auch heute noch relevant ist: Menschen denken oft in nationalen Kategorien ohne das zu hinterfragen. Über sprachliche Vergleiche werden Meinungen und Identifikationen geschaffen. Dies geschieht nicht nur in politischer Sprache, sondern auch in der Literatur. Doch hat kreatives Vergleichen auch immer das Potenzial, Weltbilder in Frage zu stellen. Vergleichen funktioniert in beide Richtungen: es kann einschläfern oder aufrütteln. Das „Methodenbesteck“, das ich zusammen mit dem Postdoc Robin Martin Aust entwickele, kann zum Beispiel auch für die Analyse von Social Media genutzt werden. Vergleichen ist etwas so Wichtiges, dass man die Vergleichsanalyse in das Curriculum von Schule und Universität aufnehmen könnte. Sie schärft das kritische Bewusstsein der Menschen. Wenn wir erklären, wie sich Überzeugungen in Menschen festsetzen und wie sie kreativ in Frage gestellt werden, vermitteln wir Werkzeuge, um zu verstehen und tragen letzten Endes zu einer Aufklärung bei.