Universität Bielefeld im Farbverlauf der ukrainischen Flaggenfarben

„Ein Programm für ein bisschen akademische Normalität“


Autor*in: Julia Bömer

Professorin Olena Tupakhina ist Leiterin des Projektbüros der ukrainischen Zaporizhzhia National University (ZNU), ständiges Mitglied des Universitätsausschusses für strategische Entwicklung und Dozentin für British and American Studies. Zaporizhzhia liegt etwa 60 Kilometer von der Frontlinie des russischen Angriffskrieges in der Ukraine entfernt. Mitte Dezember 2022 hielt sich Olena Tupakhina als Vertreterin der ZNU an Universität Bielefeld auf. Während des Aufenthalts wurde ein Programm entwickelt, das Wissenschaftler*innen und Mitarbeitenden aus Zaporizhzhia im Rahmen kurzer Aufenthalte in Bielefeld qualifiziert – ein weiterer Schritt der Kooperation zwischen den beiden Universitäten. Worum es bei dem neuen Programm geht und wie Mitglieder der Universität Bielefeld die ukrainischen Partner*innen unterstützen können – ein Interview mit Olena Tupakhina.

Olena Tupakhina in der Universität Bielefeld.
Olena Tupakhina in der Universität Bielefeld im Dezember 2022.

Frau Tupakhina, in welcher Situation erreichen wir Sie heute?

Der Tag hat mit zwei Luftangriffsalarmen begonnen. Es steht dann alles still. Egal, was wir gerade tun, wir müssen sofort damit aufhören und können erst weitermachen, wenn die Situation es wieder ermöglicht. Wir müssen auch die Lehre mit unseren Studierenden unterbrechen, die zurzeit online läuft. Online-Lehrveranstaltungen aus dem Bunker fortzusetzen funktioniert nicht wirklich, weil die Verbindung von dort zu instabil ist. Deshalb haben wir unseren Lehrplan geändert und unterrichten sehr früh morgens und sehr spät abends. Dann ist es normalerweise relativ ruhig, Alarme kommen in der Regel tagsüber. Glücklicherweise gab es heute Morgen keinen Stromausfall, was auch passieren kann. Die Region Zaporizhzhia ist bekannt für Energieerzeugung mit Kraftwerken, einem riesigen Wasserkraftwerk und dem größten Kernkraftwerk in Europa. Kein Wunder, dass wir das Ziel Nummer eins sind, wenn die Energieinfrastruktur in der Ukraine zerstört werden soll.

Wie kam es eigentlich zur Kooperation zwischen der Zaporizhzhia National University und der Universität Bielefeld?

Das war ein glücklicher Zufall! Wir sind kürzlich mit einem ukrainischen Wissenschaftler in Kontakt gekommen, der seit längerem an der Universität Bielefeld arbeitet. So kam es dazu, dass wir an der Programmlinie „Ukraine digital“ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) teilnehmen können: 190 unserer Studenten, die direkt vom Krieg betroffen sind, erhalten finanzielle Unterstützung vom DAAD, vergeben von der Universität Bielefeld. Ich kann gar nicht beschreiben, wie glücklich unsere Studierenden waren, als sie davon erfahren haben: 200 Euro Unterstützung pro Monat sind eine riesige Summe für Menschen, die alles verloren haben und verlassen mussten.

Meine Kolleg*innen in Bielefeld haben mir erklärt, dass viele Universitätsmitglieder helfen möchten, aber einfach nicht wissen, wie. So sind wir auf die Idee gekommen, an der Universität Bielefeld einen Online-Kurs im akademischen Schreiben in der deutschen Sprache für Studierende in Zaporizhzhia anzubieten. Auch einer der Kurse am Center of InterAmerican Studies (CIAS) in Bielefeld wurde für unsere Studierenden aus der Ukraine geöffnet. Wir haben dann beschlossen, unsere Zusammenarbeit der beiden Universitäten zu vertiefen. Und so konnten wir während meines Aufenthalts in Bielefeld im vergangenen Dezember ein weiteres Programm für Forschende und Mitarbeitende aus Zaporizhzhia aufsetzen. Es ermöglicht ihnen, für kurze Aufenthalte nach Bielefeld zu kommen.

Kooperationsprogramm und Wohnungssuche

Wissenschaftler*innen, akademische Mitarbeitende und Doktorand*innen der Zaporizhzhia National University werden sich 2023 für Kurzzeitaufenthalte an der Universität Bielefeld aufhalten – jeweils für einen Zeitraum von etwa 3 bis 6 Wochen. Insgesamt 8 Fakultäten, Einrichtungen und Institute aus Bielefeld sind beteiligt. Die Aktivitäten reichen von Laboraufenthalten über E-Learning-Trainings bis hin zu gemeinsamer Forschung.


Um den ukrainischen Gästen die kurzzeitigen Aufenthalte in der Region Bielefeld zu ermöglichen, werden Unterkünfte gesucht. Personen, die den ukrainischen Gästen eine vorübergehende Unterkunft zur Verfügung stellen möchten, wenden sich bitte an das International Office der Universität Bielefeld unter wohnen@uni-bielefeld.de. Die Kolleg*innen beantworten gerne weitere Fragen.

Wie profitieren die ukrainischen und die Projektpartner*innen aus Bielefeld von der Zusammenarbeit?

Wir Lehrenden aus Zaporizhzhia brauchen mehr Expertise im Bereich E-Learning. Wir haben einige Erfahrungen in der Online-Lehre – gerade durch die Corona-Pandemie. Darüber hinaus mussten wir aber vor allem Felderfahrung in der Online-Lehre sammeln, weil uns der Krieg dazu gezwungen hat. Ich konnte mir auf dem Bielefelder Campus unter anderem die E-Learning-Räume des Zentrums für Lehren und Lernen anschauen – sehr beeindruckend! Hier können unsere Lehrenden bei den geplanten Kurzaufenthalten sicherlich wertvolle Erfahrungen sammeln und später für die Online-Lehrveranstaltungen mit unseren Studierenden umsetzen, um sie noch interessanter, funktionaler, unterhaltsamer und produktiver zu gestalten. Es gibt auch gemeinsame Forschungsbereiche von Wissenschaftler*innen in Zaporizhzhia und Bielefeld. Wir kommen aus einer Region mit großem kulturellem und historischem Erbe. An unserer Universität beschäftigen sich viele Historikerinnen und Soziologinnen mit diesen Themen. Sie können ihre Forschungsinteressen mit Bielefelder Kolleg*innen austauschen. Wir suchen den Kontakt zum Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld. Das ist leider das Gebiet, auf dem wir jetzt in der Ukraine Expert*innen sind. Wir können unsere Erfahrungen einbringen und darüber sprechen, was wir im Krieg erlebt haben.

Was bedeutet das Programm für die ukrainischen Wissenschaftler*innen?

Gleich zu Beginn des russischen Angriffs, im März, gab es einen Raketenangriff neben unserem Campus: Viele unserer Gebäude und Fenster wurden beschädigt, wir haben dabei auch Teile unserer Forschungsgeräte verloren. Wir haben trotzdem ab dem 28. März – rund einen Monat nach Kriegsbeginn – Forschung und Lehre zumindest teilweise wieder aufgenommen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass für die meisten meiner Studierenden das Studium die einzige Verbindung zum normalen Leben ist. Viele meiner Kolleg*innen und auch ich fühle mich den Studierenden verpflichtet, die bestmögliche Lehre unter diesen Bedingungen zu gestalten. Wir arbeiten daran, egal was passiert. Lehren oder Forschen sind Professionen, mit der man nicht einfach aufhören kann. Wir wollen und müssen uns fortbilden und uns weiterhin am Diskurs unserer Disziplinen beteiligen. Der Krieg ist dafür eine große Herausforderung: Es ist schwer sich zu konzentrieren, es ist leicht den Anschluss an das eigene Forschungsgebiet zu verlieren. Für unsere Mitarbeitenden und Forschenden ist das neue Programm mit der Universität Bielefeld eine großartige Gelegenheit, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren und das zurückzugewinnen und nachzuholen, was sie seit dem Kriegsbeginn in Forschung und Lehre nicht machen konnten. Wieder auf Ressourcen zurückgreifen und sich wieder mit anderen Forschenden austauschen zu können, ist ein großartiger nächster Schritt. Es ist auch die Chance für viele Kolleg*innen aus Zaporizhzhia, in ihr Fachgebiet zurückzukehren.

Olena Tupakhina arbeitet an der Zaporizhzhia National University vor allem zu Internationalisierungsprozessen. Sie ist unter anderem Erasmus-Koordinatorin an ihrer Universität und war von 2008 bis 2013 Leiterin des International Office der ZNU. Sie schloss ihre Dissertation in Philologie an der Kyiv National Taras Shevchenko University ab und habilitierte sich in Philologie an der Dnipro Oles Honchar National University.