Skip to main content

“Verstehen, warum Menschen Schleuser*innendienste nutzen“


Autor*in: Universität Bielefeld

Wenn Menschen fliehen, nutzen sie heute häufig illegale Schleuserdienste, um streng bewachte Grenzen zu überschreiten. Wie hängen die Mobilität von Migrant*innen und die länderübergreifenden Netzwerke von Schleuser*innen zusammen? Das ist eine zentrale Frage, die kommende Woche in einer Tagung am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld erörtert wird. Ein Interview mit der Bielefelder Ethnologin Professorin Dr. Antje Missbach vom Leitungsteam der Tagung.

Migration ist ein sehr aktuelles Thema, aber kaum jemand schaut explizit auf irreguläre Migration. Was ist das und wie viele Menschen sind irregulär unterwegs?

Irreguläre Migration umfasst die unerlaubte Einreise und den nicht genehmigten Aufenthalt in einem Land, für das ein Mensch keine Staatsbürgerrechte besitzt. Auch wenn eine Person legal in ein Land einreist, etwa als Tourist*in, kann ihr Aufenthalt nach einer gewissen Zeit irregulär werden. Denn wenn sie vor dem Ablauf des Touristenvisums nicht ausreist, wird sie seitens des Staates als irreguläre*r Migrant*in betrachtet. Es handelt sich bei dem Begriff irreguläre Migration also weniger um eine Zustandsbeschreibung als vielmehr um die Beschreibung einer gewissen Prozesshaftigkeit. In der Literatur wird daher mittlerweile auch vermehrt von irregularisierter Migration gesprochen – vor allem, weil es nicht immer möglich ist, legal in bestimmte Länder einzureisen. Fehlende legale Einreisemöglichkeiten sind natürlich vor allem für Menschen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt ein massives Problem.
In unserem Workshop am ZiF schauen wir besonders auf die Rolle von sogenannten Schleuser*innen und Fluchthelfer*innen, die es Menschen ermöglichen, Grenzen zu überwinden. Angesichts der immer strenger bewachten Grenzen steigt die Nachfrage für solche Dienstleistungen. Es gibt dazu keine genauen Zahlen, denn es liegt ja in der Natur der Sache, dass solche Grenzübertritte oder Aufenthalte möglichst im Verborgenen erfolgen. Wir gehen aber von einer weltweit sehr großen Zahl aus. Einigen Kolleg*innen zufolge sind Schleuserdienste innerhalb großer Massenfluchtbewegungen längst nicht mehr die Ausnahme, sondern zur Regel geworden.

Bild der Person: Professorin Dr. Antje Missbach, Fakultät für Soziologie
Die Ethnologin Prof’in Dr. Antje Missbach gehört zum Leitungsteam der Tagung zu Schleuserkriminalität und irregulärer Migration.

Was sind die größten Herausforderungen dabei, dieses Phänomen zu erforschen?

Die Forschung ist zu großen Teilen von kriminologischen und juristischen Ansätzen geprägt. Das heißt, Forschende analysieren die Fälle, bei denen verurteilte Schleuser*innen – oder zumindest Leute, die für solche gehalten werden – betrachtet werden. Sich lediglich auf Polizeistatistiken oder Gerichtsurteile zu verlassen, wenn es um die Rekonstruktion von irregulärer Migration geht, birgt die Gefahr, sehr einseitige und fragmentierte Analysen zu schaffen und vernachlässigt oft die Gründe, warum sich Menschen überhaupt für Schleuserdienste entschieden haben.
Die Teilnehmenden dieser Tagung sind fast alle Ethnolog*innen und Sozialwissenschaftler*innen, die mit ethnographischen Methoden arbeiten. Neben langen Feldforschungsaufenthalten in Herkunfts- und Transitländern von Migrant*innen haben sie auch Zugang zu Schleuser*innen und Fluchthelfer*innen selbst, den Menschen, die deren Dienste nutzen, aber auch zu Strafverfolgungsbehörden und politischen Entscheidungsträger*innen. Ich selber habe lange Zeit zu Australiens Anti-Flüchtlingspolitik geforscht. Eine große Schwierigkeit dabei war die Geheimhaltung der australischen Politik zu allen Festnahmen und Abschiebungen von Flüchtlingsbooten auf hoher See. Das heißt, die einzige Möglichkeit, die abgeschobenen Passagiere und Besatzung zu interviewen, war, sie in Indonesien zu finden oder anderen Ländern, in die sie gebracht wurden.

Was erhoffen Sie sich von Ihrer Tagung?

Wir haben Forschende aus vielen verschiedenen Ländern eingeladen, vor allem um zu lernen, welche Strukturen sich außerhalb Europas gebildet haben und ob und gegebenenfalls welche Überlappungen es mit transnationalen kriminellen Gruppen gibt. Eine besondere Rolle hierbei spielt das Maß der Ausbeutung von Migrant*innen. Statt die Perspektiven von Staaten mit deren Wunsch nach Bekämpfung von irregulären Grenzübertritten einzunehmen, versuchen wir andere Blickwinkel stark zu machen – nämlich die der Menschen, die auf Schleuser*innen und Fluchthelfer*innen angewiesen sind. So wollen wir unter anderem verstehen, warum Migrant*innen Schleuser*innendienste nutzen.
Durch die intensive Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie von Mobilität bringt der Workshop eine Gruppe von Forschenden zusammen, die die Verschränkung von Mobilität und Kriminalität kritisch reflektiert. Wir wollen den zu einfachen Verallgemeinerungen hinsichtlich der Verschränkungen von Migration und transnationaler Kriminalität komplexere Fallstudien entgegensetzen. Wir verzichten darauf, staatszentrierte Narrative über Fluchthilfe, Menschenschmuggel und -handel und der damit verbundenen transnationalen organisierten Kriminalität zum Ausgangspunkt zu nehmen. Vielmehr versuchen wir, im Workshop ein akteur*innenzentriertes Verständnis dafür zu entwickeln, warum, wo, wann und wie nichtgenehmigte Grenzüberschreitungen stattfinden und welche Auswirkungen das auf weit verbreitete Annahmen über den Widerstand gegen globale Apartheid, Solidarität und staatlichen Kontrollverlust hat. Die Ergebnisse dieses Workshops sollen auch über akademische Kreise hinaus geteilt werden.

Zur Person

Professorin Dr. Antje Missbach arbeitet als Professorin für Mobilität und Migration an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Flucht- und Migrationsbewegungen im Asien-Pazifik-Raum. Missbach hat an der Humboldt-Universität zu Berlin Südostasienstudien und Europäische Ethnologie studiert und an der Australian National University in Canberra (Australien) promoviert. Als Postdoktorandin war sie an der University of Melbourne (Australien) und an der Freien Universität in Berlin. Gelehrt hat sie außerdem an den Universitäten in Heidelberg, Melbourne und zuletzt in Freiburg.