„Die Corona-Pandemie ist eine Krise, die uns als Gesellschaft auf vielen verschiedenen Ebenen gleichzeitig trifft. Trotzdem wurden die politischen Maßnahmen und deren öffentliche Diskussion über einen langen Zeitraum fast ausschließlich durch die virologische Sicht bestimmt.“ Das sagt der Politikwissenschaftler Professor Dr. Oliver Flügel-Martinsen von der Universität Bielefeld. Er ist Experte für kritische Theorie, die theoretische Erkenntnis mit bestehenden Gesellschaftsverhältnissen verbindet. Der Forscher kritisiert, dass bei politischen Entscheidungen zur Pandemiebekämpfung oftmals außer Acht gelassen würde, wie gerecht die Maßnahmen ausfallen. Wie Oliver Flügel-Martinsen die aktuelle Lage sieht:
„Dadurch, dass mit Blick auf die Bewältigung der Pandemie längere Zeit vor allem naturwissenschaftliche Sichtweisen herangezogen wurde, haben Perspektiven aus anderen Fächern überwiegend gefehlt. Das führte zur ungleichen Belastung in der Bevölkerung. Die Hilfsmaßnahmen kommen nicht bei allen an, sodass die praktischen Auswirkungen ungerecht sind. Manche Gruppen sind in der Pandemie von der Politik vergessen worden.
In der Öffentlichkeit waren in der Pandemie eigentlich nur zwei Stimmen zu hören: Die Stimme der Politiker*innen, die erwarten, dass die wissenschaftlichen Fakten automatisch zu praktischen Lösungen führen und eine wissenschaftsfeindliche Stimme, die die Methoden und Studien der Wissenschaftler*innen grundlegend ablehnt. Beide greifen jedoch zu kurz.
Gefehlt hat eine Stimme, die – im Gegensatz zu diesen beiden Polen – die Auswirkungen der politischen Maßnahmen reflektiert. Bevor politische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eingeführt werden, muss ich fragen: Welche negativen Auswirkungen haben die geplanten Maßnahmen? Wer ist davon in besonderem Ausmaß betroffen? Welche Gruppe muss die Konsequenzen hingegen privat tragen? Müssen die Maßnahmen entsprechend angepasst werden?
Mit diesen praktischen Fragen wird schnell klar, wen die politischen Schutzmaßnahmen nicht berücksichtigen. Ein Beispiel dafür war der Lockdown: Um die Menschen vor weiteren Ansteckungen zu schützen und die Infektionsketten zu unterbrechen, sollten sie ihre Wohnungen nur zur Versorgung verlassen. Doch nicht alle Menschen haben ein sicheres Zuhause. Obdachlose Menschen beispielsweise hat die Politik schlicht vergessen. Erst die Verbände mussten darauf aufmerksam machen, dass diese Menschen durch einen Lockdown ausgegrenzt werden. Gleichzeitig gehören sie oft aufgrund von unter anderem Vorerkrankungen und fehlender medizinischer Versorgung zur Risikogruppe.
So gibt es eine Reihe von Gruppen, die durch die Corona-Maßnahmen nicht ausreichend berücksichtigt wurden, während Unternehmen finanziell entlastet wurden. Geflüchtete haben in den Lagern, in denen sie untergebracht sind, beispielsweise kaum Möglichkeiten, um sich vor Ansteckungen zu schützen. Immer wieder haben Initiativen darauf hingewiesen, dass die Lager Ausbrüche von Corona und anderen Infektionskrankheiten fördern. Bis heute hat sich an den Umständen jedoch kaum etwas geändert.
Ein weiteres Beispiel ist die Betreuung von Kindern. Diese Fürsorgearbeit wurde den Menschen privat überlassen, während Kindergärten und Schulen zeitweise geschlossen wurden. Gleichzeitig wird diese Arbeit in Deutschland überwiegend von Frauen gestemmt – viele von ihnen sind alleinerziehend. Dadurch sind insbesondere alleinerziehende Frauen von der fehlenden Unterstützung betroffen gewesen und mussten sie privat ausgleichen.
Diese Beispiele zeigen, dass sich aus wissenschaftlichen Erkenntnissen keine automatischen Maßnahmen ableiten lassen. Stattdessen muss die praktische Umsetzung der Schutzmaßnahmen in einer Demokratie ausgehandelt werden. Nur wenn die verschiedenen Interessensgruppen der Bevölkerung – also in diesem Beispiel Obdachlose, Geflüchtete und alleinerziehende Frauen – mitgedacht und berücksichtigt werden, kann die Hilfe gerecht gestaltete und die breite Bevölkerung erreicht werden.
Das ist die Rolle kritischer Theorie. Sie reflektiert, wie die Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft verteilt sind und wer bei den konkreten Corona-Maßnahmen berücksichtigt wird – und wer nicht. Praktisch würde das bedeuten, dass in den Ausschüssen und Diskussionen nicht nur Virolog*innen und Politiker*innen beraten. Wir brauchen zusätzlich Menschen, die auf einer Metaebene reflektieren, ob die Maßnahmen gerecht sind. Damit trägt kritische Theorie praktisch wesentlich zu einer lebendigen Demokratie bei, bei der es um unser Verständnis von Teilhabe und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft geht.“
Dr. Oliver Flügel-Martinsen ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Seit 2019 bietet er an der Universität das Forschungskolloquium zur kritischen politischen Theorie an. Mit Beginn der Pandemie 2020 analysieren Wissenschaftler*innen und Studierende in dem Kolloquium die Methoden der Pandemiebewältigung in Deutschland und die öffentliche Diskussion dazu. Das Ergebnis ist der Sammelband „Kritik in der Krise. Perspektiven politische Theorie auf die Corona-Pandemie“. Analysiert wurde der Zeitraum von April bis September 2020. Themen sind unter anderem der Umgang mit Kritik in der Krise, der Ausnahmezustand in der Demokratie, die Rolle der Verschwörungstheorien, die Verwendung von Kriegsmetaphern und der Vergleich mit der Klimakrise.