Dr. Yaroslav Zhuravlov ist promovierter Geschichtswissenschaftler aus der Ukraine, der über den Bielefelder Nachwuchsfonds gefördert wird und an der Universität Bielefeld forscht. Seit Anfang des Jahres läuft sein Projekt zur Forschung an der kollektiven Erinnerungskultur der Kriegsverbrechen in Babyn Jar. Die Journalistin Amy Zayed sprach mit ihm darüber, wie er sich als ukrainischer Wissenschaftler in Deutschland fühlt und welche Bedeutung die ukrainische Geschichtsforschung für ihn hat, insbesondere nach den russischen Angriffen auf sein Land.
Wie sind Sie an die Forschungsstelle in Deutschland gekommen?
Ich bin ein Geschichtswissenschaftler aus der Ukraine, aber ich forsche auch über ukrainische Geschichte. Während meines Studiums habe ich mich immer mehr auf die Geschichte der Prämoderne spezialisiert. Als Doktorand habe ich mich dann mit der Geschichte des 20. Jahrhundert in der Ukraine beschäftigt, insbesondere die Zeit der Sowjetunion. Über diese Periode gibt es viel Archivmaterial in der Ukraine. Das sind richtige kleine Schätze für Forschende. Zum Beispiel ist das Archiv des ehemaligen KGB in der Ukraine seit 2015 für jeden zugänglich und einsehbar. Allerdings ist es für mich persönlich wichtig, nicht nur im Archiv zu arbeiten und Daten zu sammeln, sondern auch Dinge zu überdenken, zu hinterfragen, zu verstehen. In Deutschland und insbesondere hier in Bielefeld kann ich sehr gut mit der Theorie und Methodologie von Geschichte arbeiten. Als ich noch Student an der Taras-Shevchenko-Universität Kiew war, haben wir die Werke von Reinhart Koselleck, der an der Universität Bielefeld lehrte, gelesen. Während meiner Forschungsarbeit greife ich nun oft auf seine Arbeit über konzeptionelle und soziale Geschichte zurück. Deshalb ist es für mich eine große Ehre, hier an der Universität Bielefeld zu sein. Mir ist es für meine Forschungsinteressen sehr wichtig, mit den Kolleg*innen vor Ort zu arbeiten, mit ihnen zu kommunizieren, und dadurch auch mehr zu lernen.
Was ist der Schwerpunkt Ihrer Forschungsarbeit?
Allgemein bin ich an der Geschichte der Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg interessiert. Mein aktuelles Projekt heißt: „Babyn Jar, 1944-2022: Eine umkämpfte Erinnerungslandschaft.“ Babyn Jar ist ein Ort, an dem die Nazis mehr als 100.000 Menschen während des zweiten Weltkriegs ermordeten. Die Meisten waren Jüd*innen. Ich erforsche, wie dieser Ort sich verändert und wie er neue Bedeutung gewonnen hat. Es geht bei diesem Projekt um Erinnerung, um sowjetischen Antisemitismus, und um jüdische Nationalidentität und Desowjetisierung. Sehr komplex, aber auch sehr interessant.
Sind Ihre Forschungserfahrungen in Deutschland anders als in der Ukraine?
Die Ukraine ist schon sehr lang Teil des Bologna-Prozesses. Zum Beispiel haben Studierende Zugang zu Erasmus+, verschiedenen wissenschaftlichen Austauschprogrammen und internationalen Forschungskonferenzen. Ich würde nicht sagen, dass sich die Systeme in Deutschland und der Ukraine allzu sehr unterscheiden. Klar gibt es ein paar Unterschiede, aber ich denke, dass die Möglichkeit in verschiedenen Ländern zu arbeiten und von allen das Beste mitzunehmen der Schlüssel zur erfolgreichen wissenschaftlichen Weiterentwicklung ist. Ich kam nach Deutschland, um neues Wissen zu erlangen. Aber ich bin sicher, dass ein deutscher Forschender in der Ukraine ebenfalls sehr viel lernen wird, wenn er Zeit mit ukrainischen Kolleg*innen verbringt und mit ihnen arbeitet. Durch diese Art von Kooperationen und Austauschmöglichkeiten profitieren wir alle.
Wie wird der Krieg die Wissenschaft und die Forschenden in der Ukraine beeinflussen?
Für uns Wissenschaftler*innen aus der Ukraine hat der Krieg schon vor über acht Jahren angefangen und uns die ganze Zeit über beeinflusst. 2014 hat Russland die Krim annektiert und Angriffe auf den Donbass begonnen. Seitdem sind tausende Ukrainer*innen gestorben und 2 Millionen Menschen sind seither Binnenvertriebene. Im Februar hat Putin die zweite Phase eingeleitet, der Versuch einer Invasion in großen Stil. Ich hoffe, dass die Forschung über die ukrainische Geschichte die Forschungsthemen in der europäischen Union beeinflussen kann. Besonders in Deutschland. Ich hoffe, dass deutsche Expert*innen, die mit Russland, Ost- und Ostmitteleuropa arbeiten, die Geschichte der letzten Jahrzehnte kritisch hinterfragen, besonders die deutsch-sowjetischen, später deutsch-russischen Beziehungen. Ich würde Universitäten in Deutschland gerne ans Herz legen, die multikulturelle und multiethnische Region ganzheitlich zu studieren und die Forschung von Osteuropa nicht allein auf die russische Geschichte zu reduzieren. Am Ende werden wir – indem wir die ukrainische Geschichte studieren – auch die russische Geschichte besser verstehen lernen. Auch habe ich den Eindruck, dass deutsche Wissenschaftler*innen die Ukraine häufig aus russischer Perspektive betrachten. Es ist wichtig, das zu ändern und mehr Diversität einzubringen. Ich freue mich, in der Abteilung Geschichtswissenschaft der Fakultät Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie zu arbeiten. Dort gibt es ein unglaublich starkes Team von professionellen Kolleg*innen, und ich hoffe, dass meine Teilnahme es noch stärker werden lässt.
Wie ist Ihre Meinung als Geschichtswissenschaftler zu den russischen Angriffen auf die Ukraine?
Um ehrlich zu sagen, habe ich nicht erwartet, dass Russland den Versuch einer Invasion im Februar starten würde. Ich hatte zwar immer Angst davor, aber ich hatte die naive Hoffnung, dass Russland die Risiken objektiv genug abwägen würde. Da ich die Ukraine kenne, war mir sofort klar, dass das Land mit allen Mitteln kämpfen würde. Wir wissen, wofür wir kämpfen. Das ist ein Krieg, in dem es um unsere Zukunft und die unserer Kinder geht. Es geht um Menschenrechte, um Redefreiheit, um Europa und die Freiheit. Und was hat uns Russland zu bieten, was kann uns Russland entgegenbringen? Die blutige sowjetische Vergangenheit? Während des von Stalin organisierten Holodomor, der großen Hungersnot in der Sowjetukraine von 1932 bis 1933, verloren wir 3,5 bis 5 Millionen Ukrainer*innen. Und wir haben Millionen von Menschen im zweiten Weltkrieg verloren. Ein Krieg, der auf dem Territorium unseres Landes hereinbrach und von zwei Diktatoren ausgelöst wurde: Hitler und Stalin. Nazismus und Kommunismus oder Stalinismus waren die beiden hauptschuldigen Attribute des zweiten Weltkriegs. Für Russland ist Stalin ein Held und ein „effektiver Manager“, obwohl er für den Rest der Welt ein Tyrann und Mörder ist. Nach dem Krieg ging Deutschland durch die Denazifizierung. Russland ging jedoch weder durch eine Dekommunisierung oder Destalinisierung. Und die Konsequenzen sehen wir jetzt.
Die Verbrechen der russischen Armee haben tiefe geschichtliche Wurzeln. Das ist die Armee, die chemische Waffen in Syrien benutzt hat, die in Tschetschenien ein Blutbad angerichtet hat. Traditionen, die tief in der Geschichte der ehemaligen Sowjetunion verwurzelt sind. Das ist dieselbe Brutalität, dieselben Praktiken, die in den 1980ern in Afghanistan genutzt wurden. Für die russische Armee sind Kriegsverbrechen leider die Norm, nicht die Ausnahme. Für die Ukraine ist der zweite Weltkrieg eine Tragödie. In Russland jedoch gibt es den Slogan: „Wir können es wiederholen!“ Und sie wiederholen es gerade. 1945 haben russische Streitkräfte deutsche Frauen ausgeraubt und vergewaltigt. Später dann in Afghanistan, Tschetschenien und Syrien. Jetzt plündern sie und vergewaltigen Frauen in der Ukraine. Und die Einzigen, die Widerstand leisten können, sind ukrainische Streitkräfte. Als Ukrainer*innen sind wir unseren Soldat*innen unglaublich dankbar. Aber ich hoffe sehr, dass sich Deutschland seiner geschichtlichen Rolle und Verantwortung bewusst wird. Einer Verantwortung, die nicht nur mit den Taten im zweiten Weltkrieg einhergeht, sondern auch mit Passivität in den vergangenen Jahrzehnten. Das heutige Russland ist ein existentielles Problem. Nicht nur für die Welt, sondern auch für die Russ*innen selbst. Ich glaube Geschichtswissenschaftler*innen sollten nicht nur all diese Dinge erforschen, sondern auch darüber sprechen, die Zusammenhänge erklären – gerade auch den Politiker*innen. Lassen Sie uns an diesem Problem gemeinsam arbeiten und endlich den Slogan „nie wieder“ mit wahrer Bedeutung füllen.