Ein Tierverband aus Königspinguinen

Wie es kommt, dass Mensch und Tier sich individualisieren


Autor*in: Universität Bielefeld

Individuelle Unterschiede gibt es nicht nur bei Menschen, sondern bei allen Organismen. Welche Rolle Individualisierung unter wechselnden Bedingungen spielt – das untersucht das Institut JICE der Universität Bielefeld und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit Ende November 2021 wird unter dem Dach des Instituts der neue Forschungsverbund InChangE koordiniert. Gefördert wird der Verbund vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen über sein Programm zur Profilbildung. Er soll die Methoden und das Wissen von Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften kombinieren, um Individualisierung systematisch zu untersuchen. InChangE knüpft an den Transregio-Sonderforschungsbereich NC³ (SFB/TRR 212) der beiden Universitäten an, in dem seit 2018 individuelle ökologische Nischen erforscht werden. Was führt dazu, dass sich Mensch und Tier individualisieren? Das berichten vier Bielefelder Wissenschaftlerinnen aus Sicht ihrer Forschung.

Flexible Arbeitswelt fordert Erwerbstätige unterschiedlich heraus

Dr. Anja Abendroth ist Juniorprofessorin für technischen und sozialen Wandel an der Fakultät für Soziologie und Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt „Digitale Zukunft“.

„Individualisierung in der Arbeitswelt bedeutet, dass wir selbst dafür verantwortlich sind, unsere Erwerbstätigkeit zu gestalten. Flexible Arbeitsformen fordern uns heraus, Arbeits- und Privatleben selbstständig zu strukturieren und aufeinander abzustimmen. Durch die Digitalisierung haben wir neue Möglichkeiten. Wir können beispielsweise über digitale Plattformen oder im Homeoffice arbeiten. Vor allem durch die Coronakrise deutet sich hier ein kultureller Wertewandel an: Fehlende technische Infrastrukturen und fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte fallen als zentrale Gründe gegen Homeoffice weg. Die Vor- und Nachteile, die damit verbunden sind, variieren jedoch zwischen den Erwerbstätigengruppen. Außerdem haben Frauen seltener die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten als Männer. Eine entscheidende Rolle für ein gelingendes Homeoffice spielt die Unternehmenskultur. Sie bestimmt mit, inwiefern eine bessere Abstimmung von Arbeits- und Privatleben durch Homeoffice gelingt oder ob damit mehr Arbeitsbelastungen und Konflikte zwischen den Lebensbereichen einhergehen.“

Bild der Person: Prof’in Dr. Anja Abendroth, Fakultät für Soziologie
Prof’in Dr. Anja Abendroth von der Fakultät für Soziologie

Insektizide beeinflussen Blattkäfer-Verhalten

Dr. Caroline Müller ist Professorin für Chemische Ökologie an der Fakultät für Biologie.

„Jeder Meerrettichblattkäfer ist anders – der eine ist mutiger, explorativer oder aktiver als der andere Käfer. Auch wenn wir die Insekten unter gleichen Bedingungen halten, zeigen sich individuelle Unterschiede in der Persönlichkeit. Deutlich unterscheidet sich beispielsweise das Verhalten von Männchen und Weibchen: Männchen trauen sich schneller aus der Dunkelheit ins Licht, Weibchen sind dafür in anderen Verhaltenstests forscher. Wenn wir im Labor verschiedene Umweltreize hinzufügen, zeigen sich noch deutlichere Unterschiede. Erhalten die Käfer schlechtes Futter, trauen sie sich mehr, sind aber weniger aktiv. Ziehen wir die Käfer einzeln auf, entwickeln sie sich schneller und sind mutiger, als wenn sie in Gruppen aufgezogen werden. Auch Insektizide beeinflussen das Verhalten der Käfer. So konnten wir sehen, dass Weibchen aggressiver agieren, wenn sie mit Insektiziden in Berührung kamen. Die Umwelt beeinflusst neben dem Verhalten auch die Fitness der Blattkäfer. Seit einigen Jahrzehnten sind die Tiere drastischen Veränderungen ausgesetzt. Sie können sich an die Umweltgifte und die Lichtverschmutzung nur in Maßen anpassen. Vielleicht entwickeln sie Resistenzen – die Umweltverschmutzung könnte aber auch zu einem Aussterben der Käfer führen, wie es derzeit bei vielen Insektenarten geschieht.“

Bild der Person: Professorin Dr. Caroline Müller, Fakultät für Biologie
Prof’in Dr. Caroline Müller von der Fakultät für Biologie

Feuersalamander entwickeln sich abhängig vom Lebensort

Professorin Dr. Barbara Caspers forscht zur Verhaltensökologie in der Fakultät für Biologie.

„Im Transregio-Sonderforschungsbereich NC³ untersuche ich mit meinem Team, wie die Umwelt die Entwicklung des Feuersalamanders beeinflusst. Herausgefunden haben wir bereits, dass die Larven der Feuersalamander sich je nach Lebensort unterschiedlich verhalten: Diejenigen, die in Bächen leben, sind
nach unserer Studie risikofreudiger als solche, die in Tümpeln aufzufinden sind. In Tümpeln treffen die
Larven auf mehr Raubfeinde, das Wasser ist dreckiger. Die Erfahrungen, die sie dort machen, wirken sich auf die Persönlichkeit aus – ähnlich wie Erfahrungen auch beim Menschen die Persönlichkeit beeinflussen
können. Wir beobachten derzeit, dass Tümpel trotz der Raubfeinde interessanter für die Feuersalamander werden. Durch den Klimawandel gibt es häufiger starke plötzliche Regenfälle, wodurch mehr Larven in
den Quellbächen wegdriften. Wie wird sich durch diese Entwicklung die Persönlichkeitsstruktur der Feuersalamander ändern? Vielleicht werden die Tiere explorativer, wandern mehr und können auf diese Weise ihre Population retten. Es kann aber auch das Gegenteil passieren und die Feuersalamander werden durch die Erfahrungen, die sie als Larven gemacht haben, scheuer. Wenn wir überlegen, was wir tun können, um die Feuersalamander zu schützen, müssen wir auch immer die Persönlichkeit der Tiere in unsere Entscheidung einbeziehen.“

Bild der Person: Professorin Dr. Barbara Caspers von der Fakultät für Biologie
Co-Sprecherin von InChangE: Prof’in Dr. Barbara Caspers von der Fakultät für Biologie

Umwelteinflüsse führen zu individuellem Verhalten

Dr. Annette Malsch ist Professorin für Umwelthygiene und Umwelttoxikologie an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften.

„Jede Interaktion mit unserer Umwelt beeinflusst unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Dabei spielt auch unsere Umweltwahrnehmung eine wichtige Rolle: Die objektiv bestimmbare Umwelt wird subjektiv emotional bewertet und eingeordnet. Das wirkt sich auf unser individuelles Lebensweltbild aus, wie zum Beispiel, ob ein Geräusch belästigt oder nicht. Straßenverkehr kann völlig ausgeblendet werden oder als nerviges Hintergrundgeräusch Stress auslösen. Warum wir die gleiche Szene verschieden bewerten, hat mit unserer individuellen Widerstandskraft oder Anfälligkeit gegenüber Stressoren zu tun – das steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Ausbildung von Widerstandsressourcen im Laufe von Kindheit und Jugend. Mit meiner Forschung zu nachhaltigem, gesundem Wohnen und Wohnumfeld untersuche ich, wie wir Lebenswelten so gestalten können, dass sie unsere Gesundheit fördern. Aktuell schauen wir uns beispielsweise therapeutische Heilgärten daraufhin an, welchen pflanzlichen oder auch therapeutischen Elementen heilsame Effekte zugeschrieben werden. Ziel ist, diese auf die Stadtquartiersgestaltung zu übertragen – etwa mit Urban Gardening –, um damit nicht nur Gesundheit, sondern auch Gemeinwohl, Mikroklima, Artenvielfalt und Nachhaltigkeit zu fördern.“

Bild der Person: Professorin Dr. Annette Malsch von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften
Prof’in Dr. Annette Malsch von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften

Der Forschungsverbund InChangE

InChangE steht für „Individualisierung in sich ändernden UmWelten“. Der Verbund wird von den Universitäten Bielefeld und Münster getragen. Die beteiligten Wissenschaftler*innen kommen aus neun Disziplinen. Gemeinsam forschen sie zu vier Themenkomplexen: Sie analysieren die Ursachen und Mechanismen der Individualisierung; sie erarbeiten Verfahren, um Individualisierungsprozesse zu modellieren und vorherzusagen; sie untersuchen, wie sich Individualisierung im Spannungsfeld zum Gemeinwohl auswirkt, um ethisch angemessenere Lösungen entwickeln zu können – etwa individualisierte Therapieansätze, aber auch individualisierte Produkte. Parallel arbeitet ein Projekt daran, eine gemeinsame Wissenschaftssprache für die fächerübergreifende Forschung zu Individualisierung zu etablieren, damit die beteiligten Wissenschaftler*innen sich untereinander mit denselben Fachbegriffen verständigen können. Gefördert wird InChangE vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen von November 2021 bis Oktober 2024.

Die Zitate wurden von Linda Thomßen aufgezeichnet. Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Aktualisierung eines Artikels aus BI.research –Forschungsmagazin der Universität Bielefeld, Ausgabe 52 (2021).