Neue Regelungen sollen an der Universität Bielefeld ehrliche, kritische und faire wissenschaftliche Arbeit in Forschung und Lehre stärken. Sie stehen unter dem Titel „Leitlinien und Verfahrensordnung zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“. Schon seit dem Jahr 2000 gelten an der Universität Grundsätze für die Arbeit der Wissenschaftler*innen. Sie werden durch die jetzt eingeführten Regelungen erweitert. Welche Neuerungen in den Leitlinien enthalten sind und wie die Verfahrensordnung bei Streitfällen unterstützt, erklären zwei Mitglieder des Rektorats im Interview: Professor Dr. Martin Egelhaaf, Prorektor für Forschung der Universität Bielefeld, und Professorin Dr. Birgit Lütje-Klose, Prorektorin für Studium und Lehre.
Warum braucht die Universität Bielefeld Leitlinien für die wissenschaftliche Praxis?
Martin Egelhaaf: Wissenschaftler*innen an Universitäten verfügen über ein besonderes Privileg, und das ist die Wissenschaftsfreiheit. Sie entscheiden zum Beispiel frei, zu welcher Fragestellung sie forschen und mit welchen Methoden sie vorgehen. Zu dieser Freiheit gehört, ehrlich, kritisch und fair vorzugehen und transparent zu machen, wer welchen Anteil an einem neuen Forschungsbefund hat. Die neuen Leitlinien geben unseren Wissenschaftler*innen zusätzliche Orientierung für redliches Verhalten in Forschung und Lehre. Entwickelt haben wir sie über ein Jahr in Diskussionen im Rektorat, in der Forschungskommission, im Senat, mit dem Fakultätenrat und dem Hochschulrat, aufbauend auf einem Kodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Grundsätze allein reichen aber nicht aus. Wie in jedem Bereich der Gesellschaft kommt es auch in der Wissenschaft zu Fehlverhalten – wenn etwa einzelne Forschende Daten manipulieren, um zu erwünschten Ergebnissen zu kommen, oder wenn in wissenschaftlichen Arbeiten fremde Texte und Erkenntnisse nicht korrekt zitiert und als eigenes geistiges Eigentum ausgegeben werden. Deshalb ergänzen wir die Leitlinien mit einer Verfahrensordnung. Darin ist festgelegt, wie mit Verdachtsmomenten für wissenschaftliches Fehlverhalten umgegangen wird.
Birgit Lütje-Klose: Die Leitlinien schaffen insbesondere auch Klarheit für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Als Universität ist es unsere Aufgabe, Studierenden und Doktorand*innen die Qualitätsstandards wissenschaftlicher Praxis zu vermitteln. Dazu gehört es, schon zu Beginn des Studiums wissenschaftliche Arbeitstechniken zu lehren. Weil das so essenziell ist, bieten die Fakultäten, Graduiertenschulen, das Zentrum für Lehren und Lernen wie auch die Universitätsbibliothek unterschiedlichste Lehrveranstaltungen zu wissenschaftlichen Arbeiten an. Es geht darum, vorbeugend dafür zu sorgen, Plagiate und anderes Fehlverhalten zu verhindern. Wissenschaftler*innen als Lehrende leben die gute wissenschaftliche Praxis vor: Indem sie nicht einseitig darstellen, sondern unterschiedliche Sichtweisen und Befunde zu einem Forschungsthema aufzeigen, oder auch, indem sie zum kritischen Diskurs ermuntern.
Die jetzt beschlossenen Regelungen erweitern Grundsätze, die die Universität vor etwa 20 Jahren beschlossen hat. Was ändert sich mit dem neuen Kodex?
Lütje-Klose: Die vorher geltenden Grundsätze konzentrierten sich auf die Forschungspraxis. Die neuen Regelungen gehen darüber hinaus. So ist aufgenommen, dass die Personalauswahl und -entwicklung auch die Gleichstellung der Geschlechter und Diversität berücksichtigen soll. Ergänzt ist ebenfalls, dass wissenschaftliche Leistungen mehrdimensional bewertet werden sollen. In Berufungen und anderen Einstellungsverfahren und auch bei der Begutachtung von Forschungsanträgen spielen quantitative Indikatoren eine wichtige Rolle – also Merkmale, die sich über Zahlen abbilden lassen: etwa die Summe eingeworbener Drittmittel oder Kennzahlen zu Publikationen von Forschenden und wie oft und wie hochrangig diese zitiert werden. Die neuen Grundsätze stellen heraus, dass die wissenschaftlichen Leistungen natürlich auch inhaltlich und qualitativ bewertet werden sollen. Das schließt insbesondere die Originalität der Forschung und Lehrqualität mit ein, kann aber zum Beispiel auch Aspekte wie Wissenschaftskommunikation in den Blick nehmen.
Egelhaaf: In ihrer Ausführlichkeit wurden außerdem die Paragrafen zur Ombudsperson und zur Untersuchungskommission angepasst. Wenn Angehörige der Universität einen Fall von wissenschaftlichem Fehlverhalten vermuten, können sie sich an die Ombudsperson wenden. Ab dem 1. Juli ist das der Rechtswissenschaftler Professor Dr. Christoph Gusy. Er übernimmt die Aufgabe von dem Philosophie-Professor Dr. Ansgar Beckermann, der mehr als elf Jahre Ombudsperson war. Die Ombudsperson klärt nicht nur, ob ein hinreichender Verdacht eines Regelverstoßes besteht, sondern kann bei Konflikten auch helfen, nach einer Lösung zu suchen, die für alle Beteiligten annehmbar ist.
Was versprechen Sie sich von den neuen Leitlinien?
Egelhaaf: Mit den Leitlinien heben wir als Universität hervor, dass gewissenhafte und redliche Forschung und Lehre ein fundamentaler Bestandteil der Wissenschaft sind. Ihre Umsetzung trägt auch dazu bei, das Vertrauen der Gesellschaft in die Wissenschaft zu stärken und zu fördern. Wie gut die Selbstkontrolle in der Wissenschaft funktioniert, zeigt sich aktuell, wenn Fachkolleg*innen Schwächen und Fehler in wissenschaftlichen Forschungsartikeln zum Coronavirus und der Pandemie offenbaren. Das zeigt aber auch: Als Universität müssen wir die nötigen Rahmenbedingungen für gute wissenschaftliche Praxis schaffen. Wir können sie aber nicht verordnen. Gute wissenschaftliche Praxis muss tagtäglich von den Wissenschaftler*innen selbst gelebt werden.