Der Europäische Forschungsrat (ERC) zeichnet eine Wissenschaftlerin und einen Wissenschaftler der Universität Bielefeld mit dem ERC Starting Grant aus. Sie erhalten jeweils 1,5 Millionen Euro für Spitzenforschung in ihren Disziplinen. Professorin Dr. Martina Hofmanová von der Fakultät für Mathematik beschäftigt sich in ihrem Projekt mit den Strömungen von Flüssigkeiten und berechnet, wie diese vom Zufall beeinflusst werden. Dr. Toni Goßmann von der Fakultät für Biologie befasst sich in seinem Projekt mit der epigenetischen Programmierung, untersucht also flexible Erbgutveränderungen, die zum Beispiel steuern, welche Gene in Körperzellen aktiviert werden. Als Empfänger*innen dieser Forschungsförderung zählen Hofmanová und Goßmann jetzt zu Europas besten Nachwuchswissenschaftler*innen.
„Ich freue mich mit Martina Hofmanová und Toni Goßmann über die Auszeichnung mit dem ERC Starting Grant und gratuliere ihnen herzlich zu dem Erfolg“, sagt Professor Dr.-Ing. Gerhard Sagerer, Rektor der Universität Bielefeld. „Beide Wissenschaftler*innen haben sich durch herausragende Fachpublikationen und internationale wissenschaftliche Kooperationen hervorgetan. Ihre jetzt bewilligten Forschungsvorhaben sind sehr aussichtsreich. Sie sind so angelegt, dass sie richtungsweisende Erkenntnisse für ihre Forschungsgebiete hervorbringen.“
Berechnen, wie der Zufall Stillstand und Turbulenzen bewirkt
Der ERC fördert als Teil der Auszeichnung von Professorin Dr. Martina Hofmanová das Projekt „Mathematical analysis of fluid flows: the challenge of randomness“ (FluFloRan, Zufälligkeit in Strömungen von Flüssigkeiten). Die Förderung läuft ab März 2021 für fünf Jahre. Die Forschungsgruppe unter Leitung von Martina Hofmanová untersucht, wie der Zufall die Strömungen in Flüssigkeiten verändert. Anders als Physiker*innen nutzt sie dafür keine Experimente, sondern arbeitet mit mathematischen Gleichungen. Sie arbeitet wie viele Wissenschaftler*innen weltweit daran, die richtigen Gleichungen zur Beschreibung von Strömungen in Flüssigkeiten und Gasen zu finden. Eines der großen Ziele ist es nach wie vor, eine mathematische Theorie für die Entstehung von Turbulenzen zu entwickeln. „Ich versuche dies durch die Berücksichtigung des Zufalls, das heißt von zufälligen Störungen auf mikroskopischer Ebene.” Die Forschung in diesem Bereich ist für viele Anwendungsbereiche relevant, von der Luft- und Raumfahrt bis hin zu der Entwicklung von Rennrädern. „Wenn es gelingt, turbulente Strömungen zu verhindern oder sie zu nutzen, spart dies Energie beziehungsweise Kraft“, sagt Hofmanová. Wichtig ist die
Weiterentwicklung entsprechender mathematischer Modelle auch für die Meteorologie, um präzisere Vorhersagen treffen zu können.
„Die Gleichungen, mit denen wir im Projekt arbeiten, kommen aus der Physik. Wir wollen mit mathematischen Methoden klären: Haben die Gleichungen tatsächlich eine Lösung? Und falls ja: Ist diese Lösung auch eindeutig?“, sagt Hofmanová. Unter Fachleuten sind die Navier-Stokes-Gleichungen und die Euler-Gleichungen bekannt. Ingenieur*innen und Meteorolog*innen setzen sie für Simulationen ein. „Immer wieder bekommen sie dabei merkwürdige, unphysikalische Ergebnisse, die es in der Realität so nicht geben kann“, sagt Martina Hofmanová. „Ich möchte herausfinden, wie wir solche unmöglichen Lösungen mathematisch von den guten, physikalischen Lösungen unterscheiden können.“
Martina Hofmanová machte ihren Masterabschluss in Mathematik an der Karls-Universität in Prag, der größten Universität Tschechiens. Sie promovierte an der Hochschule École Normale Supérieure de Cachan, Atenne de Bretagne, in Frankreich. Bevor sie 2017 nach Bielefeld kam, forschte sie ein Jahr in Leipzig am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften und drei Jahre an der Technischen Universität Berlin. Sie ist Mitglied des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1283 an der Universität Bielefeld, in dem die mathematische Theorie des Zufalls eine zentrale Rolle spielt.
Verstehen, welche Rolle Epigenetik evolutionär spielt
Als Teil der Auszeichnung von Dr. Toni Goßmann fördert der ERC das Projekt „Deciphering adaptive footprints of epiC evolution on different timescales“ (DECAF, Entschlüsselung adaptiver Fußabdrücke der Methylomevolution). Diese Förderung läuft ab Februar 2021 für fünf Jahre. Die Forschungsgruppe unter Leitung von Toni Goßmann widmet sich der Epigenetik, einem Spezialgebiet der Molekularbiologie. Im menschlichen Organismus befinden sich Hunderte von Zelltypen. Obwohl sie alle dieselbe DNA-Sequenz enthalten, unterscheiden sich diese durch kleinste Markierungen, sogenannte epigenetische Veränderungen. In der Epigenetik geht es darum, wie diese Markierungen steuern, welche Erbinformationen in den Zellen wirksam werden. Diese Steuerung kann zum Beispiel auf Umweltveränderungen wie die Außentemperatur reagieren und Zellen widerstandsfähiger gegen Wärme machen. „Die Epigenetik spielt eine grundlegende Rolle bei der Funktion und Regulation unserer Zellen, aber auch bei Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs“, sagt Toni Goßmann, der am Lehrstuhl Verhaltensforschung tätig ist.
Fachleute diskutieren kontrovers, ob Epigenetik beim Menschen und Tieren überhaupt für die Evolution bedeutsam ist. „Epigenetische Veränderungen werden meist nicht vererbt. Ich möchte daher klären, welche Rolle Epigenetik evolutionär spielt – also in der Weitergabe und Veränderung genetischer Merkmale von Generation zu Generation – um potenziell Rückschlüsse auf Krankheiten und deren Heilung ziehen zu können.“ Dafür untersucht Goßmann solche epigenetischen Veränderungen, die tatsächlich vererbbar sind und in jungen Zellen kurz nach der Befruchtung ablaufen. Außerdem analysiert er die Gene, von denen feststeht, dass sie epigenetisch aktiviert oder stillgelegt werden können. „Für diese Gene verfolgen wir dann, wie und ob sie an die Nachkommen weitergegeben werden“, so Goßmann. Goßmann und sein Team erforschen eine bestimmte Art der epigenetischen Veränderung – die DNA-Methylierung „Sie ist der derzeit am besten verstandene Vorgang in der Epigenetik.“
Toni Goßmann schloss sein Diplom in Bioinformatik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena ab. Er promovierte dann in Biologie an der University of Sussex (Großbritannien). Er forschte im Anschluss an der Universität Hohenheim, der University of Sheffield (Großbritannien) und wechselte 2019 an die Universität Bielefeld. Sein Wechsel nach Bielefeld wurde über den „ERC Preparative Fellowship“ der Universität ermöglicht. Mit dem Förderprogramm werden exzellente
Nachwuchswissenschaftlerinnen unterstützt, die einen Antrag für einen ERC Starting Grant vorbereiten. Goßmann ist assoziiertes Mitglied des Transregio-Sonderforschungsbereichs (SFB/TRR 212) NC³ der Universitäten Bielefeld und Münster, der sich mit der Individualisation von Tieren und ihren ökologischen Nischen befasst.
Der ERC Starting Grant
Der Europäische Forschungsrat (ERC) vergibt seinen Starting Grant an exzellente Nachwuchswissenschaftler*innen in den ersten sieben Jahren nach Abschluss ihrer Promotion. Mit dem Preis wird ihre Forschung über fünf Jahre mit bis zu 1,5 Millionen Euro gefördert. Bedingung für den Preis ist, dass die Wissenschaftler*innen bereits eigenständig als Erstautor*innen publiziert und ihre angehende Führungsrolle in der Forschung unter Beweis gestellt haben. An der Universität Bielefeld wurden bisher zwei Forschende mit dem ERC Starting Grant ausgezeichnet: die Soziologin Professorin Dr. Minh Nguyen (2018) und der Mathematiker Dr. Dawid Kielak (2019).
Weitere Informationen:
• Pressemitteilung des Europäischen Forschungsrats: „ERC Starting Grants 2020: €677 million awarded to unravel scientific mysteries“
• ERC Preparative Fellowship der Universität Bielefeld