Für Bernhard Schlink sind die Gänge der Universitätsbibliothek ein vertrauter Anblick. Er war als wissenschaftlicher Assistent von 1975 bis 1977 an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld tätig. Am Montagabend besuchte er aber nicht als Rechtsgelehrter, sondern als Schriftsteller die Universität, um aus seinem aktuellen Roman „Olga“ zu lesen.
Vor Beginn der Lesung, die von der Universitätsbibliothek in Kooperation mit dem Absolventen-Netzwerk e. V. der Universität Bielefeld anlässlich des Universitätsjubiläum organisiert worden war, gab Schlink zunächst Einblick in seinen Bezug zu Bielefeld. Im Gespräch mit Moderatorin Kristina Sterz (WDR) und vor mehr als 300 Zuhörerinnen und Zuhörern in der Universitätsbibliothek schilderte er, dass er 1944 in der Stadt Großdornberg (heute Teil von Bielefeld) geboren wurde. Nicht, weil seine Familie dort lebte, sondern weil das Krankenhaus dorthin evakuiert wurde. 1946 verließ die Familie Bielefeld und zog nach Heidelberg, wo Schlink aufwuchs und studierte. Als er 1975 nach Bielefeld zurückkehrt, kommt er „bei einer sehr netten Patentante, Fräulein Pilgrim“ unter, die damals in der Asterstraße lebte. In „Olga“ spiele Bielefeld seines Wissens nach keine Rolle, „aber vielleicht entdecken Sie es ja“, sagte er mit einem Lächeln ins Publikum.
Olga: Getrieben sein trifft auf Beobachten
„Olga“ spielt in Oberschlesien und Pommern am Ende des 19. Jahrhunderts. Olga wird vorgestellt als ein Mädchen, dessen liebste Beschäftigung das Beobachten ist. Die zweite Figur ist Herbert, ihr Gegenstück. Er will nicht beobachten, sondern – besonders in seinen Kindertagen – rennen. So viel rennen, „dass das Herz nicht schneller schlagen, der Atem nicht schneller gehen konnte.“ Die beiden werden ein Paar, das aber wenig Zeit zusammen verbringt, weil Herbert, als junger Mann getrieben von Träumen von kolonialer Macht und Größe der Deutschen, zu immer neuen Abenteuern aufbricht.
„Uns begegnen diese Großmachtfantasien jetzt wieder“
Im Anschluss an die Lesung diskutierten vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Bielefeld den Roman aus verschiedenen wissenschaftlichen Blickwinkeln. Professor Dr. Andreas Zick vom Institut für Konflikt- und Gewaltforschung zeigte sich besonders fasziniert davon, wie die Figur Herberts für Großmachtfantasien empfänglich wird. „Uns begegnen diese Großmachtfantasien jetzt wieder“, beschrieb er mit Verweis auf aktuelle Studien.
Professorin Dr. Angelika Epple, Professorin für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, beschrieb als bemerkenswerten Punkt, dass die Protagonistin zu Beginn des Buches ausschließlich als Beobachterin beschrieben und am Ende – in Form von Briefen – als handelnd erkannt wird. „Da steckt ein Plädoyer drin, sich Geschichte über Dokumente zugänglich zu machen“, fasste sie zusammen.
Diskussion über Liebe und Schuld
Dr. Matthias Buschmeier, Literaturwissenschaftler in der Germanistik, nahm die Liebesbeziehung zwischen den Protagonisten in den Fokus. „Hier wird Liebe ganz anders erzählt und ganz anders verstanden, als wir es heute tun. Da stößt man sich dran: weil es nicht ins Schema passt.“
Dr. Ulrike Davy, Professorin des Öffentlichen Rechts, nahm mit dem Ausspruch Olgas „Den Deutschen gerät alles zu groß“, besonders die Frage der deutschen Schuld in den Fokus. „Ist es nur deutscher Größenwahn und Großmachtfantasie, was in den Nationalsozialismus geführt hat – wie es hier als Erklärung angeboten wird?“, war ihre Frage, die dann ausführlich diskutiert wurde.
Die Diskussion wurde abgeschlossen mit einem weiteren Lesebeitrag Schlinks. Mit Dank in Richtung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihre Beiträge verriet er dem Publikum zum Schluss, dass er sehr bewusst für die Lesung zurück an die Universität Bielefeld gekommen sei: „Der Verlag wurde gefragt, ob ein Schauspieler aus meinem Buch vorlesen dürfe und vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dann über den Inhalt diskutieren. Ich dachte mir: Vier Forschende diskutieren mein Buch? Da muss ich dabei sein!“