Wie können klinische Leitlinien so gestaltet werden, dass sie (kontext-)gerechte und inklusive Gesundheitsversorgung ermöglichen – und zugleich Forschung und Innovation gezielt voranbringen? Diese Fragen diskutieren Prof‘in Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Leiterin der AG Geschlechtersensible Medizin, und ihre Kolleg*innen im Perspektivartikel „Designing clinical practice guidelines for equitable, inclusive, and contextualised care“. Der Beitrag ist Teil der aktuellen Sonderedition des British Medical Journal (BMJ) zum Thema „Innovations in Womens Health“. Insgesamt neun internationale Autor*innen wurden eingeladen, ihre innovativen Ansätze für die Frauengesundheit im globalen Kontext in der Ausgabe zu publizieren, darunter auch das Bielefelder Forscher*innenteam der Medizinischen Fakultät OWL.
Im Zentrum des Beitrags steht die Rolle klinischer Leitlinien (Clinical Practice Guidelines, CPGs) als strategisches Instrument im Zusammenspiel von Versorgung, Forschung und Innovation. „CPGs setzen nicht nur klinische Standards – sie können auch aktiv zur Identifikation von Versorgungslücken beitragen und auch Forschungsprioritäten beeinflussen“, sagt Sabine Oertelt-Prigione. „Voraussetzung dafür ist jedoch eine konsequent geschlechter- und kontextsensible sowie methodisch standardisierte Entwicklung“.

© Universität Bielefeld/Mike-Dennis Müller
Datenanalyse zeigt große Lücken
Die empirische Grundlage bildet eine Analyse von 325 europäischen Leitlinien aus zehn internistischen Fachgebieten (2012–2022), mit über 14.000 Empfehlungen. Zwar enthielten 74 Prozent der Leitlinien geschlechts- oder genderbezogene Begriffe, doch nur 4,7 Prozent der Empfehlungen griffen diese Aspekte tatsächlich auf – meist im Kontext von Reproduktion, Gynäkologie oder Urologie. Empfehlungen zu geschlechtsspezifischen Fragen jenseits klassischer „Frauenthemen“ blieben die Ausnahme. Besonders deutlich wird dies in der Kardiologie: Trotz hoher Relevanz behandeln nur 1,6 Prozent der Empfehlungen geschlechtsübergreifende Aspekte. Ein weiteres Ergebnis: Die Leitlinienkomitees waren mehrheitlich männlich dominiert – unabhängig vom Inhalt. „Dabei zeigen Studien, dass weibliche Forschende eher geneigt sind, Genderaspekte einzubeziehen“, so Oertelt-Prigione. „Eine diversere Besetzung von Expert*innengremien ist daher zentral für inklusivere Empfehlungen“. Das Forscher*innenteam fordert deshalb eine strukturelle Neuausrichtung der Leitlinienentwicklung: Zielgruppen, soziale Kontexte und Versorgungskapazitäten müssen von Beginn an berücksichtigt werden, um auch außerhalb hochentwickelter Systeme anwendbare Leitlinien zu ermöglichen.
Empfehlungen für inklusivere Leitlinienentwicklung
Im Beitrag schlagen sie deswegen konkrete methodische Ansätze vor, die die Erarbeitung von Leitlinien unterstützen können, um sie inklusiver zu gestalten. Dazu zählt etwa die Nutzung des Implementierungsrahmens PIPOH, der Zielgruppe, Intervention, Berufsgruppe, erwartete Outcomes und Versorgungskontext systematisch erfasst. Zudem empfehlen die Autor*innen die Einbindung von Stakeholdern mit praktischer Erfahrung – auch aus Ländern mit niedrigerem Einkommen – sowie den Einsatz digitaler Tools zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung. Voraussetzung sei hier ein ethisch fundierter und transparenter Umgang mit KI. Feedbackschleifen mit lokalen Anwenderinnen könnten zudem digitalisiert und als „Living Guidelines“ kontinuierlich weiterentwickelt werden.
Abschließend plädiert das Team für die Einrichtung einer übergeordneten, unabhängigen Institution, die internationale Standards koordiniert, Umsetzungen begleitet und Leitlinien zentral archiviert. Das könnte Transparenz und Nachvollziehbarkeit stärken – auch über Europa hinaus. „Denn Leitlinien haben enormes Potenzial über die klinische Versorgung hinaus“, sagt Sabine Oertelt-Prigione. „Sie können helfen, strukturelle Ungleichheiten in Forschung und Versorgung sichtbar zu machen und so weltweit zu einer gerechteren Gesundheitsversorgung beitragen.“
Weitere Informationen:
- Vollständige Publikation: Awa Naghipour, Eva Becher, Marcel Gemander, Sabine Oertelt-Prigione: Designing clinical practice guidelines for equitable, inclusive, and contextualised care. British Medical Journal. The BMJ Collection on Women’s Health Innovation. https://www.bmj.com/content/391/bmj-2025-085684. Veröffentlicht am 10. Oktober 2025.
- Website: Homepage der AG Geschlechtersensible Medizin
Kontaktinformationen:
Prof’in Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Universität Bielefeld
Medizinische Fakultät OWL, AG Geschlechtersensible Medizin
Telefon: 0521 106-86621
E-Mail: sabine.oertelt-prigione@uni-bielefeld.de
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